Ihr Kampf
Nach fast 70 Jahren könnte die SPÖ Wien verlieren. Mit Bürgermeister Michael Häupl und Heinz-Christian Strache stehen sich zwei Populisten gegenüber.

Der Leopold-Mistinger-Platz im fünfzehnten Wiener Bezirk ist kein städtebauliches Glanzlicht: Mietskasernen bestimmen die Szenerie, im Parterre Call Shops und Wettbüros. Hierher hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) an diesem Donnerstagnachmittag geladen. Hier, weit weg von Hofburg, Oper und Ringstrasse, hofft die Partei, ihre Wähler zu finden: bei den Mühseligen und Beladenen, die der sozialdemokratischen SPÖ seit Jahren schon in Scharen den Rücken kehren.
Am Sonntag dieser Woche wählt Wien einen neuen Gemeinderat. SPÖ und FPÖ werden die Sache unter sich ausmachen, die bürgerliche ÖVP wird aller Voraussicht nach pulverisiert werden. Es ist ein Zweikampf zwischen Michael Häupl, dem 66-jährigen Bürgermeister von der SPÖ, und Heinz-Christian Strache, 20 Jahre jünger und Chef jener FPÖ, die in den Achtzigerjahren begann, halb Europa von einer angeblichen Rückkehr des Nationalsozialismus raunen zu lassen.
Was bleibt, ist Unverständnis
Auf der Bühne spielt die John Otti Band: «Jeder ist ein Matador, viva España.» Alte und Junge bevölkern den Platz, Rentner und solche mit verspiegelten Sonnenbrillen. «Es wird wieder einmal fulminant zugehen heute Nachmittag», kündigt Bandleader Otti an, doch sein plakativer Frohsinn wirkt kaum ansteckend. «Wer gut drauf ist, die Hände rauf!», ruft er, eine Aufforderung, die ungehört verhallt. Ein Rentner, Herr Moser, steht da und wird von einer blonden ORF-Reporterin befragt, die aussieht, als habe sie eben erst die Journalistenschule abgeschlossen. Zwei Welten stossen aufeinander und verstehen einander nicht.
Dieser Moser redet aber auch wirr daher: Vom Flüchtlingsansturm an Österreichs Grenze geht er nahtlos zu den Milliardenschulden der Gemeinde Wien über und von dort zum Bürgermeister Häupl, der ihn, einen städtischen Angestellten, «ausgschossen» und zu einem Dasein als Pensionist mit Minirente verdammt habe. Sein Lieblingsthema aber ist die Automatisierung in der Industrie und anderswo: «Wenn Sie da hinten in die Station gehen», erklärt er und deutet auf die U-Bahn-Station Johngasse, «da treffen Sie niemanden mehr an, der ihnen weiterhilft.» Es ist die existenzielle Verlorenheit des Menschen in der Moderne, an der er leidet, der Rentner Moser.
Neben ihm steht Walter Hofer, ein älterer Herr mit Pudel, Hornbrille und Barbour-Jacke, der aus dem feinen ersten Bezirk hierher gekommen ist. Unter Bruno Kreisky, dem legendären sozialistischen Kanzler der Siebziger- und Achtzigerjahre, habe er noch die SPÖ gewählt, sagt Hofer. Ein Mann mit Weitblick und Charakter sei das gewesen, der Kreisky. Später dann sei der Einsatz für die Schwachen bei der SPÖ nach und nach verloren gegangen. «Diese Arroganz der Macht!», klagt Hofer. Ein neues Haus der Geschichte hätten sie gebaut, in das jetzt die Musikinstrumentensammlung der Nationalbibliothek umziehen solle. Ein Wahnsinn, die klimatischen Bedingungen dort seien alles andere als ideal. Das scheint an diesem Nachmittag die grösste Sorge des Herrn Hofer zu sein.
Abendland und Zahnspangen
Der eine fürchtet um historische Musikinstrumente, ein anderer redet von Zahnspangen, für die es keine Beihilfe von der Krankenkasse mehr gebe. Auf der Bühne aber geht es um Grösseres: «Wir sind das christliche Abendland!», verkündet Johann Baptist Björn Gudenus, seines Zeichens Fraktionschef der Freiheitlichen im Gemeinderat, Angehöriger des österreichischen Hochadels und Sohn des FPÖ-Politikers und Holocaustleugners John Gudenus.
Und dann betritt Ursula Stenzel die Bühne. Seit zehn Jahren ist sie Vorsteherin des Ersten Bezirks, davor war sie Journalistin beim ORF und als solche eine der schärfsten Kritikerinnen der Haider-FPÖ. Nun tritt sie als unabhängige Kandidatin auf der FPÖ-Liste an, nachdem die ÖVP sie nicht mehr aufstellen wollte. Stenzel ist die idealtypische Repräsentantin des Wiener Grossbürgertums. Dem Polit-Rowdy Strache könnte die 70-Jährige zu einer gewissen Respektabilität verhelfen. Dass sie Jüdin sei, Enkelin eines Rabbiners gar, raunen einem FPÖ-Leute immer wieder zu und offenbaren damit unfreiwillig, dass mit ihrer Partei noch immer etwas faul ist: Man muss erwähnen, dass eine Jüdin bei den Freiheitlichen mittut, es ist nicht normal.
«So wie es sich gehört», habe man sie hier empfangen, sagt Ursula Stenzel und tönt dabei, als lobe sie einen neuen Dienstboten. Küsst Strache ihr die Hand, wirkt er immer ein wenig wie ein Erbschleicher, der den gesellschaftlichen Aufstieg sucht. Mit Perlenkette und gelbem Wollkleid passt Stenzel so ganz und gar nicht ins FPÖ-Milieu und auch das, was sie sagt, will nicht so recht passen: Michael Häupl sei verbraucht, sagt sie, die selbst vier Jahre älter ist als der Bürgermeister; es gebe Leute, die würden vom Arbeitsamt gezwungen, mehr als 100 Weiterbildungskurse zu besuchen, behauptet sie und schneidet damit ein Thema an, das von ihrer eigenen Lebenswelt so weit entfernt liegen dürfte wie die Loge der Staatsoper von den Stehplätzen im Gerhard-Hanappi-Stadion. Als sie ihren Zuhörern unbesehen die Generalabsolution erteilt («Ihr seid keine Faschisten, keine Rechtsextremen») klingt das, als wolle sie sich selbst beruhigen.
«Eine unglaublich tolle Dame» sei die Frau Stenzel, «eine Löwin!», ruft FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache (46), ein gelernter Zahntechniker und fesch auf eine Weise, dass man meinen könnte, zum Anzugmodel habe es für ihn knapp nicht gereicht. 20 bis 30 junge Antifa-Leute hinter der Sperre fangen jetzt an zu pfeifen. «Say it loud, say it here, refugees are welcome here!», rufen sie. «Ihr pfeift aus dem letzten Loch», höhnt Strache zurück.
Er ist ein engagierter Redner, doch keiner, der zu begeistern vermag, zu abgegriffen sind seine Bilder, zu vorhersehbar seine Pointen: Gedanken aus zweiter, wenn nicht aus dritter Hand. Von Leistungsträgern, die vom Staat ausgesaugt würden, redet Strache, davon, dass die Menschen wieder zählen müssten, von Heizkosten und Rollstuhlfahrern der Pflegestufe drei.
Harte Slogans sind passé
Manchmal könnte man meinen, einem Linken zuzuhören. Wenn er fordert, anstatt «irgendwelchen Gender-Blödsinn wie die Änderung der Bundeshymne» durchzusetzen, solle sich der Staat lieber darum kümmern, dass Frauen gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhielten, ist das Strache in nuce: Rhetorik für enttäuschte SPÖ-Wähler, die bei den modischen Volten ihrer Stammpartei schon lange nicht mehr mitkommen. Die Flüchtlingskrise, Ausländerfragen, all das streift er allenfalls am Rande: Die Zielgruppe weiss inzwischen schon, wem sie in diesen Fragen vertrauen kann. «Daham statt Islam» hiess es vor fünf Jahren noch auf den Plakaten, nun genügt ein unverfängliches «Aus Liebe zu Wien».
Strache endet, der Jubel ist laut, das Volk schwingt rot-weiss-rote Fähnchen. «Immer wieder Österreich» spielt die Band. Stenzel und Strache singen mit, als wären sie Marianne und Michael. Seine Rede scheint gefallen zu haben. «Er ist logisch, er stimmt», sagt eine platinblonde Frau um die 50. Sie sei ja selbst Polin, erklärt sie mit schriller Stimme, aber die Türken, die nach Wien kämen, lebten spätestens nach einem Jahr von der Sozialhilfe: «Fünf Kinder an der Hand und zwei im Bauch!»
Eine Partei der Alten
Einen Tag später, am Freitagabend, lädt die SPÖ nach Floridsdorf, ein Arbeiterquartier auf der anderen Seite der Donau. Ungefähr 1000 Leute sind gekommen, fast nur Pensionisten, in der Mehrzahl Frauen. Marlena Martinelli, Schlagersängerin aus der Steiermark, bemüht sich, den Leuten einzuheizen: «Liebe, die im Herzen bebt, Gefühle, die man nie versteht, bei dir war das schon immer so, oh Romeo!», singt sie in die Halle hinein.
Dann kündigt der Moderator den Wohnbaustadtrat Michael Ludwig an, «Doktoooooor Michaeeeeel Luuudwiiiiiiig!» Ludwig, ein Funktionär ohne erkennbare Eigenschaften, spult eine leidenschaftslose Rede ab, spricht von Gemeindebauten und bezahlbarem Wohnraum. Als er endet, ist der Conférencier schon ein wenig ungeduldig und will rasch überleiten zum nächsten Programmpunkt, doch da, auf einmal, kommt spärlicher Applaus auf. «Klar, das ist der Applaus für Herrn Dr. Ludwig», sagt der Moderator und wirkt dabei ehrlich überrascht.
Jetzt aber, Dr. Ludwig ist endlich beiseite geschoben, der inoffizielle Höhepunkt des Abends: «ANDY BORG IST HIER!» Andy Borg, der frühere Moderator des «Musikantenstadls», geboren 1960 hier in Floridsdorf. «Wer von euch hat mich schon einmal gesehen, ausser im Fernsehen und in der Schul?», fragt Borg. Die Leute jubeln, als hätten sie den Messias vor sich. Hier, im Haus der Begegnung, habe er zum ersten Mal getanzt, erzählt er, wobei er «der Wolfertsberger Gabi auf die Füss gestanden» sei. Der Saal scheint selig, nur die fünf Juso in der Ecke grinsen sich tapfer an, so als müssten sie sich gegenseitig versichern, was vom Musikgeschmack der Alten zu halten ist.
Ob es wirklich eine gute Idee war, Michael Häupl und Andy Borg zusammenzubringen? Der Moderator redet von einem Gipfeltreffen, doch als Häupl den Saal betritt, singt Borg gerade «Angelo mio, ti amo». Die Einzigen, die von Häupl Notiz nehmen, sind die anwesenden Journalisten.
Borg gibt sich kämpferisch, wodurch er sich von sämtlichen anwesenden SPÖ-Politikern unterscheidet. Im Juni musste er die Moderation des «Musikantenstadls» abgeben, ORF und ARD schickten ihn aufs Altenteil, in der Folge brachen die Einschaltquoten ein. «Den ‹Stadl› können sie mir nehmen, mein Publikum nicht!», ruft Borg. «Zugabe! Zugabe!», schallt es zurück.
Es ist ein Menschenmuseum, in dem ich mich hier befinde: Ein Showmaster in Zwangspension begegnet einem Bürgermeister, dem bald schon das gleiche Schicksal bevorstehen könnte. Zwei Versehrte treffen aufeinander. «Ich bin stolz, dass ich Floridsdorfer bin!», sagt Borg zum Abschied und nicht wenige im Saal bekommen feuchte Augen. Würde hier und heute abgestimmt, Andy Borg würde anstelle von Michael Häupl ins Wiener Rathaus einziehen.
Nun betritt Häupl die Bühne, ein Mann, dem das Kostbarste, seine Stadt, zu entgleiten droht. Den Andy Borg müsse man zum «Stadl» zurückholen, das sei doch klar, erklärt er pflichtschuldig. Lauter werden sie ihm an diesem Abend nicht mehr zujubeln. Die Rede, die folgt, ist eine einzige Enttäuschung: «Zwei-Millionen-Stadt», «viel bauen, gell, Herr Wohnbaustadtrat?», «Probleme am Arbeitsmarkt», «Autobahnring», «haben Pläne, während andere nur komisch reden», «120 Schulen», «Spital Floridsdorf Nord» – Häupl redet technokratisch, wie einer, der sich schon aufgegeben hat. Die Parteijugend spielt auf ihren Smartphones herum. «Geht wählen, zehn Minuten am Sonntag, ich bitte euch!», schliesst der Bürgermeister beinahe flehend. Das Publikum interessiert anderes: Wo denn der Andy Borg Autogramme gebe, fragt mich eine rotbackige ältere Dame. Den Häupl finde sie «sehr sympathisch, locker, der macht das gut», sagt sie auf Nachfrage. Da mischt sich ihre Tochter ein: «Aber wir sind schon wegen dem Andy Borg hier. Der singt sehr gut, und aus Floridsdorf ist er auch!»
Auf der Bühne hat mittlerweile die Jazz Gitti übernommen, eine in Wien bekannte Volkssängerin. Ein knallrotes Kleid spannt sich über ihren Körper, tief ist das Décolleté, schmutzig die Witze: «Manche reden ja auf der Bühne von ihrer nächsten Nummer», sagt sie, «ich rede von meinem nächsten Lied, weil wenn ich eine Nummer schieben will …» Die Jazz Gitti bittet Freiwillige auf die Bühne, es kommt der Christian, ein stark übergewichtiger Mann um die 70. «Du bist sexy», sagt die Gitti dem Christian, «zeig deine Muskeln wie der Schwarzenegger, auch den Gösser-Muskel», womit sie in Anspielung auf eine bekannte Brauerei den Bierbauch des Rentners meint. Der Christian macht ein paar Verrenkungen und grinst über seine eigene Demütigung. In der ersten Reihe sitzt Michael Häupl mit erstarrtem, fast maskenhaftem Gesicht. Das Publikum lacht, Häupl nicht.
Das Unterhaltungsprogramm hat mich in sanfte Krawallstimmung versetzt. Ich trete auf Katharina Schinner zu, die stellvertretende Landesparteisekretärin der SPÖ, eine elegante Mittdreissigerin. Drei Stunden schreiend bunte Volksverblödung hätte ich nun mitangesehen, sage ich Frau Schinner ins Gesicht. Ob die Sozialdemokratie nicht einmal eine emanzipatorische Bewegung gewesen sei, frage ich, doch im selben Moment tut Katharina Schinner mir schon leid. Sie ist jetzt erst einmal baff und braucht einen Moment, um ihr Lächeln wieder aufzusetzen. «Den Leuten gefällts», sagt sie. Was sich Häupl wohl denke, wenn er der Jazz Gitti zuhöre, bohre ich nach. «Da müssen Sie den Herrn Bürgermeister schon selbst fragen», sagt Frau Schinner und bietet mir an, mich zu ihm zu führen.
Die Macht des Weissweins
So stehe ich denn im Foyer unversehens dem Mann gegenüber, der Werner Faymann, dem Bundeskanzler, angeblich sagt, was er tun und lassen soll. Warum Häupl selbst nie Kanzler wurde? Böse Zungen meinen, das hänge damit zusammen, dass er mittags oft schon nicht mehr ansprechbar sei. Der Weisswein. Ein Bürgermeister kann seinen Terminkalender selbst machen, ein Bundeskanzler nicht. Gewaltig wirkt Häupl, allein durch seine Grösse schon einschüchternd. Über 20 Jahre als Bürgermeister, frage ich, ob da der Wahlkampf nicht schon längst lästige Routine sei? «Es ist schon anstrengend. Zehnmal muss man sich das Gleiche anhören und ebenso oft das Gleiche sagen», antwortet Häupl. «Aber es macht auch Spass», fügt er nach einem Zögern hinzu, mit einem Gesichtsausdruck, der ihn Lügen straft.
Ich möchte nachhaken, doch Häupl muss weg. Beim Hinausgehen aber schenkt er mir eine Pointe, so klischeehaft, wie sie sich nur die Wirklichkeit ausdenken kann. «Wo gibts an Gspritzten?», fragt Häupl einen seiner Leute und lässt mich stehen. Nein, ich habe mir das nicht ausgedacht: «Wo gibts an Gspritzten?», fragt der Wiener Bürgermeister Dr. Michael Häupl und begibt sich hinaus in diese dunkle Nacht, auf die Suche nach dem nächsten Weissweinschorle. Die Politik muss jetzt erst einmal warten.
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