«Ich will zeigen, dass mir die EU wichtig ist»
Rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung ist bei der Europawahl wahlberechtigt. Für viele ist das EU-Parlament weit weg, andere setzen ein Zeichen.

Fanny Deslandres ist vor acht Jahren in die Schweiz gekommen, ihr Mann ist Schweizer, ihre Tochter ebenfalls. Doch für die 31-Jährige ist klar: «Ich fühle mich als französische Bürgerin, auch wenn ich in der Schweiz wohne. Das bringt Rechte und Pflichten mit sich.» Wenn vom 23. bis 26. Mai die Europawahlen anstehen, wird Deslandres darum von Bern aus ihre Stimme abgeben. «Mit meiner Teilnahme an der Europawahl will ich zeigen, dass mir die Europäische Union wichtig ist», sagt Deslandres. Darum werde sie proeuropäische Kräfte wählen.
Deslandres ist eine jener über 130'000 Franzosen, die in der Schweiz wohnen und sich ins Wahlregister eingetragen haben. Im kleinen Land, das ständig mit seiner Beziehung zur grossen Staatengemeinschaft hadert, befinden sich sogar mehr EU-Bürger als in sechs EU-Mitgliedsstaaten: 2 Millionen sind es, knapp ein Drittel davon Doppelbürger, total rund 1,7 Millionen im Stimmrechtsalter, wie die Vertretung der EU-Kommission in Bern schätzt. Damit darf rund ein Fünftel der hiesigen Bevölkerung an den EU-Wahlen teilnehmen.
Längst nicht alle wissen davon. «Welche Wahl? Wann ist die?», fragt der Vertreter eines Clubs für Deutsche in der Schweiz. Unter seinen Landsmännern sei das kein Thema. Fanny Deslandres hat dafür Verständnis, auch wenn sie es schade findet. «Wenn man in der Schweiz wohnt, fühlt man sich vom Europaparlament weiter entfernt als in Frankreich oder in Deutschland», sagt sie. Überhaupt mangle es an konkreten Themen und Entscheidungen.
Diesmal ist es anders
Vera Gärttling hat eine andere Erfahrung gemacht. Die Deutsche, seit zehn Jahren in der Schweiz, wird an der Europawahl teilnehmen, «weil ich immer wähle, wenn ich wählen darf». Die meisten Kandidaten kenne sie zwar nicht, weil Parteilisten und nicht Personen gewählt werden. Auch sei der europäische Urnengang nicht mit einer Landeswahl vergleichbar, der Einfluss auf die Politik weniger direkt. Aber diesmal sei es anders als bei der letzten Europawahl 2014, sagt Gärttling: «In Deutschland entstand eine breite Debatte über die Urheberrechtsreform in der EU, darum ist für mich stärker präsent als in anderen Jahren, worüber die Europaparlamentarier entscheiden.»
Auf konkrete Folgen weist auch der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth hin, der neben dem Schweizer Pass den italienischen besitzt. Im Tauziehen um ein institutionelles Abkommen mit der EU könne die Schweiz ihre Ausgangslage verbessern, wenn im EU-Parlament linke und grüne Kräfte gestärkt werden. Diese hätten am meisten Gehör für das Anliegen, Lohndumping als Folge der bilateralen Verträge zu verhindern. «Ich hoffe, dass möglichst viele Doppelbürger jene Parteien wählen, die sich für einen guten Lohnschutz einsetzen, auch beim institutionellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU», sagt Wermuth.
Linke in der Schweiz aktiv
Die SP Schweiz versucht, EU-Bürger mit Veranstaltungen und Flyern zum Wählen zu bewegen, und arbeitet dafür mit den europäischen Schwesterparteien zusammen. Die deutsche SPD etwa hat in Zürich einen Ableger, die Sozialdemokratische Partei Europas in Genf. Der italienische PD ist im ganzen Land schon seit Jahrzehnten präsent, dank ihm können Ausland-Italiener selbst bei parteiinternen Wahlen mitentscheiden. In diesem Jahr versuchen auch die Grünen, ihren europäischen Pendants Stimmen aus der Schweiz zu verschaffen. Im Februar holten sie darum Reinhard Bütikofer, den Co-Vorsitzenden der Europäischen Grünen, nach Zürich.
Bei den bürgerlichen Parteien hingegen stossen die EU-Wahlen kaum auf Interesse. Doppelbürger wie der Genfer FDP-Nationalrat Benoît Genecand oder der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer verzichten sogar demonstrativ auf ihr demokratisches Recht. «Eine Teilnahme an italienischen oder europäischen Wahlen ergibt keinen Sinn für mich», sagt Heer. Einige Staaten machen ihren Auslandbürgern das Wählen aber auch schwer bis unmöglich: Italiener oder Slowaken müssen im Land selbst die Stimme abgeben. Bulgarien, Tschechien, Dänemark, Griechenland, Irland und Malta lassen ihre Bürger im Ausland gar nicht erst zu. Wie viele Wähler sich dennoch von der Schweiz aus beteiligen, wird nicht erhoben. Einen Anhaltspunkt liefert die Statistik über die Franzosen im Ausland: 11 Prozent legten 2014 ihre Stimme ein, viermal weniger als in der Heimat.
Cédric Wermuth kann das nachvollziehen. «Nationale Wahlkämpfe lösen viel mehr Emotionen aus als die Europawahlen. Das hängt mit der noch immer schwachen Stellung des EU-Parlaments zusammen», sagt er. Doch einen Teil des Desinteresses verschulden die europäischen Parteien auch selbst. «Egal, wen man wählt, am Schluss regiert immer dieselbe grosse Koalition», kritisiert Wermuth. «Darum ist für die Wähler schwer nachvollziehbar, inwiefern ihre Stimmabgabe eine Veränderung bewirkt.» Das ist zumindest für die europäische Ebene richtig. Hingegen kommt es regelmässig vor, dass die EU-Wahlen nationale Regierungskoalitionen in die Krise stürzen: Es sei «die Tragödie der Europawahlen», sagt Wermuth, «dass kaum europäisch, sondern vor allem national gewählt wird».
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch