«Ich klage an»
Eine 46 Jahre zurückliegende Skandal-Rede von Günter Grass ist als Hörbuch veröffentlicht worden. Der Autor hielt sie damals unter Polizeischutz.

Im September 1965 machte er im katholisch geprägten Cloppenburg Wahlkampf für den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt. Die Rede vor 3.500 Personen sei massiv gestört und nur unter Polizeischutz zu Ende gebracht worden, sagte Hörbuch-Herausgeber Kai Schlüter am Dienstag in Cloppenburg. Es sei wohl eine der ersten gewaltsam gestörten Wahlveranstaltungen der jungen Bundesrepublik gewesen.
Bei Recherchearbeiten war Nordwestradio-Redakteur Schlüter auf das Originaldokument gestossen. Radio Bremen restaurierte den 80-minütigen Amateurmitschnitt und veröffentlichte ihn jetzt unter dem Titel «Ich klage an - Die Cloppenburger Wahlkampfrede».
Hitzige Atmosphäre
Auf dem Hörbuch liefert sich der Literaturnobelpreisträger Grass einen heftigen Schlagabtausch mit dem Publikum. Nachdem er mehrfach unterbrochen wurde, rief er den Protestlern «Denkt Ihr mit dem Bauch oder mit dem Kopf?» und «Ihr seid der Bildungsnotstand» zu. Zu Willy Brandt sagte er, begleitet von «Buh»-Rufen: «Seit Jahren wird der Regierende Bürgermeister von Berlin zweckdienlich verleumdet. Hier sieht man, wie die Saat aufgegangen ist.»
Entsprechend war die Stimmung: Während der Veranstaltung flogen mehrere Hundert Eier und Tomaten. Plakate mit Parolen wie «Kommunisten-Herold» wurden hochgehalten. Der Einsatzleiter der Polizei stand zweimal kurz davor, Teile der Halle räumen zu lassen.
Organisiert hatten den Auftritt die beiden damals 20 Jahre alten SPD-Mitglieder Peter Brinkmann und Franz-Josef Arkenau. Unterstützung von ihrer eigenen Partei erhielten sie nach eigenen Angaben nicht. «Der SPD-Ortsverein bestand damals nur aus sieben Mitgliedern. Und die wollten mit uns nichts zu tun haben», sagte Arkenau. Brinkmann beschrieb das Verhältnis von politischen Freunden und Gegnern in der CDU-Hochburg mit «10 Prozent zu 90 Prozent».
Zur Veranstaltung war Eintritt von einer Mark verlangt worden. «Man muss sich das heute einmal vorstellen: Die kamen zum politischen Gegner und bezahlten auch noch dafür», sagte der heute als Fernsehmoderator in Berlin arbeitende Brinkmann.
«Wir hatten Schiss»
Am Ende mussten Grass und die Organisatoren unter Polizeischutz aus der Halle geführt werden. «Ziel des Auftritts war die politische Aufklärung. Aber das war kein Spass mehr. Wir hatten Schiss», sagte Brinkmann. Grass widmete Cloppenburg und dem dortigen Auftritt später in seinem nach Jahren gegliederten Buch «Mein Jahrhundert» das Jahr 1965. Der heute 83 Jahre alte Grass habe sich sehr über das erschienene Hörbuch gefreut, sagte Schlüter.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch