Bestsellerautorin bei Bider & Tanner«Ich bin ein Bücherjunkie»
Die gebürtige Baslerin Zoë Jenny hat Leser in der ganzen Welt. Im Interview verrät sie, was sie von Autorenlesungen und vom genderkorrekten Schreiben hält.

In der Buchhandlung Bider & Tanner in der Aeschenvorstadt lauschte am Mittwochabend das Publikum der preisgekrönten Basler Autorin Zoë Jenny (48), die heute in der Nähe von Wien wohnt und aus ihrem neuen Buch «Der verschwundene Mond» las. Darin beschäftigt sie sich mit den Rätseln des Universums und der menschlichen Psyche.
Zoë Jenny, Sie haben acht Jahre lang in London gelebt, ausserdem in Berlin, New York, in Italien und auf Bali. Heute wohnen Sie in der Nähe von Wien. Aber Sie sind immer wieder mal in Ihrer Heimatstadt Basel anzutreffen, aktuell wegen der Vernissage für Ihr neues Buch. Wo liegt für Sie der Reiz an der Stadt?
Am Dienstag kam ich mit dem Zug aus Wien am Bahnhof Basel SBB an und spazierte quer durch die Stadt zu meinem Hotel. Jeder Stein, jede Hausecke, jede Strasse bedeutet eine Erinnerung für mich, auch die Geräusche, der Duft des Rheins. Basel ist die Stadt, der ich seit Kindheit verbunden bin, sie ist meine Erinnerungsstadt.
Ihre Leserschaft geht über Basel, die Schweiz, ja Europa hinaus – Ihr Erstling «Das Blütenstaubzimmer» wurde in nicht weniger als 27 Sprachen übersetzt. Erhalten Sie viel Fanpost?
Nachdem 1997 «Das Blütenstaubzimmer» erschienen war, wurde ich mit Briefen überschwemmt. Ich besitze heute noch Kisten mit Fanbriefen. Damals gab es ja noch keine Social Media.
Wie ist es heute?
Briefe kommen praktisch keine mehr, dafür Reaktionen via Facebook. Das Internet hat alles verändert. Das ist nicht nur schlecht. Es gibt ja Autoren, die ihre Bücher zum Downloaden anbieten oder Texte nur noch online publizieren.
Wie lesen Sie selber?
Ich bin ein Bücherjunkie. Ich brauche Bücher um mich herum, ich liebe Papier. Meine zwölf Jahre alte Tochter liest zwar ebenfalls noch gedruckte Bücher, aber in ihrer Schule ist das Tablet das Hauptmedium.
«Die LGBTQ+-Bewegung eine Mode zu nennen, wäre völlig verfehlt.»
Und wie gehen Sie beim Schreiben vor?
Ich schreibe zuerst immer von Hand. Anschliessend tippe ich das Geschriebene in den Computer.
Ein aufwendiges Verfahren. Warum machen Sie das so?
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Gehirn und Hand. Etwas zuerst von Hand zu entwerfen, hilft der Kreativität. Man erhält mehr Zeit zum Nachdenken.
Erstellen Sie ein Konzept, bevor Sie ein Buch schreiben? Oder schreiben Sie einfach drauflos?
Ich entwerfe Kurzbiografien meiner Protagonisten. Aber ich weiche während des Schreibens oft davon ab.
Das Mädchen Stella, eine Figur in Ihrem neuen Buch, macht ebenfalls eine Veränderung durch. Stella fühlt sich plötzlich nicht mehr wohl in ihrem Frauenkörper, sie möchte ein Mann sein.
Für die Figur Stella hatte ich diese Entwicklung ursprünglich nicht geplant. Aber ich habe während des Schreibens erkannt, dass viele Gewissheiten in unserer Gesellschaft am Bröckeln sind, selbst biologische Tatsachen erscheinen nicht mehr als gesichert. Die Geschlechtsidentitäten werden fliessender.
Ist es derzeit nicht einfach auch ein bisschen Mode, zu sagen, man habe das Bedürfnis, sein Geschlecht zu ändern?
Nein, überhaupt nicht. Die LGBTQ+-Bewegung eine Mode zu nennen, wäre völlig verfehlt. Sie ist sehr ernst zu nehmen. Junge Menschen wie meine Tochter halten sie für sehr, sehr cool. Die Bewegung wird langfristig dazu führen, dass es einen Geschlechterkampf, wie wir ihn heute leider noch kennen, nicht mehr geben wird.
Wie stehen Sie zum genderkorrekten Schreiben?
Ich schreibe noch in der traditionellen Form. Aber Sprache reflektiert stets ein bestimmtes Denken, und dieses Denken verändert sich, also verändert sich auch die Sprache. Man mag sich über den Genderstern oder das Binnen-I lustig machen. Aber im Grund genommen sind sie die folgerichtige Entwicklung in einer Gesellschaft, die sich verändert. Veränderung ist ja überhaupt erst die Voraussetzung für die Evolution.
«Ich schreibe die Bücher, die ich selber gerne lesen würde.»
Alles verändert sich, nur eines bleibt, zumindest im Literaturbetrieb, eine Konstante: die Autorenlesung vor Publikum. Welche Bedeutung haben Lesungen für Sie?
Ich schätze sie sehr. Am spannendsten sind eben immer noch direkte Begegnungen mit Menschen.
Es gibt Autoren, die sich an den angeblichen Bedürfnissen der Leserschaft orientieren. Und Sie?
Ich schreibe die Bücher, die ich selber gerne lesen würde. Über Themen, die mich bewegen.
In Ihrem neuen Buch tauchen Sie ein in die Welt der Astrophysik und Neurologie – ein Thema, das Sie bisher nie aufgegriffen haben. Was hat Sie daran fasziniert?
Ich habe mich, bevor ich mit dem Schreiben begann, jahrelang mit diesem Thema beschäftigt, in Observatorien recherchiert und mit Astrophysikern gesprochen. Wissenschaftlich gesehen, ist das Buch auf dem neuesten Stand.
In Ihrem Buch schreiben Sie, es sei erstaunlich, dass wir mehr über ferne Planeten wissen als über unser eigenes Bewusstsein. Wie würden Sie selber menschliches Bewusstsein definieren?
Nicht einmal die Wissenschaft kann definieren, was Bewusstsein wirklich ist. Jeder hat seine eigene Vorstellung davon, doch die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen und wie wir sie uns vorstellen. Davon handelt mein neues Buch.
Ihr verstorbener Vater Matthyas Jenny war Autor, Verleger und aktiv im Basler Kulturleben. Inwiefern hat er Sie geprägt?
Er hat in mir die Liebe zur Literatur und zum Schreiben geweckt, er war ein neugieriger Mensch. Diese Neugierde habe ich auch. Sein Motto lautete: Nicht das, was man sagt, ist wichtig, sondern das, was man macht. Ich finde das eine gute Lebenshaltung, der ich ebenfalls nachzuleben versuche.
Zoë Jenny: «Der verschwundene Mond». 128 Seiten, 29.90 Fr., Frankfurter Verlagsanstalt.
«Los emol» – der Podcast der «Basler Zeitung»
«Los emol» beleuchtet Themen, die Basel bewegen. Moderiert von René Häfliger. Abonnieren Sie den Podcast über Apple Podcasts, Google Podcasts, Spotify oder jede gängige Podcast-App.
Fehler gefunden?Jetzt melden.