Human und handlungsunfähig
Das Dilemma des Rechtsstaats in der Asylpolitik.

Die Basler Zeitung berichtete diese Woche zweimal über Fälle, in denen anerkannte Flüchtlinge falsche Kinder in die Schweiz nachreisen liessen. Die Eritreer hatten die Behörden bewusst getäuscht. Doch diese waren gutgläubig davon ausgegangen, dass die Flüchtlinge die Wahrheit sagen. Man mag das als naiv bezeichnen. Aber letztlich handelten die zuständigen Staatsangestellten durchaus angemessen. Denn anerkannte Flüchtlinge haben ein Recht auf Nachzug von nahen Verwandten wie Ehegatten und Kinder. So lange nicht bewiesen ist, dass es falsche Angehörige sind, muss der Nachzug gewährt werden. So gebietet es die Menschlichkeit in einem zivilisierten Rechtsstaat.
Dass beim Familiennachzug laufend betrogen wird, überrascht allerdings wenig. Das Problem liesse sich einfach lösen: Die Behörden könnten bei allen angeblichen Angehörigen per DNA-Test überprüfen, ob sie tatsächlich so nahe verwandt wie behauptet sind. Aber standardmässige Gentests wären ein unangemessener Eingriff in die Privatsphäre. Zulässig sind solche Tests nur, falls ein konkreter Verdacht auf Betrug vorliegt. Die Menschenwürde geht vor.
Die beiden Eritreer, die falsche Kinder nachreisen liessen, wurden, wie berichtet, je zu einer bedingten Freiheitsstrafe und einer nicht allzu hohen Busse verurteilt. Vermutlich lachen die Verurteilten darüber. Denn wer aus schwierigen Lebensverhältnissen wie in Eritrea kommt und womöglich eine lebensgefährliche Reise durch Libyen und über das Mittelmeer überstanden hat, den wird eine bedingt verhängte Gefängnisstrafe kaum beeindrucken. Aber in einem zivilisierten Land wie der Schweiz kann ein simpler Betrüger nicht gleich hart bestraft werden wie ein Mörder oder Vergewaltiger. Die Strafe muss verhältnismässig sein – auch das ist ein rechtsstaatliches Gebot. Und falls es dennoch einmal unbedingte Freiheitsstrafen für Falschangaben absetzen sollte: Auch im Gefängnis muss es human zu und her gehen. Ein zivilisiertes Land sperrt niemanden bei Brot und Wasser in dunkle Löcher.
Reizbegriff Eritrea
Eritrea ist sowieso ein Reizbegriff: Die Schweiz hat in den letzten Jahren Zehntausende Asylmigranten aus diesem Land aufgenommen, so viele wie aus keinem anderen Land. Jeder dieser Zuwanderer bezeichnet sich als Flüchtling vor einem repressiven Regime. Zwar ist inzwischen klar, dass Eritrea nicht das «Nordkorea Afrikas» ist, wie Menschenrechtsorganisationen lange behaupteten. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass die allermeisten Zuwanderer aus Eritrea nicht an Leib und Leben bedroht waren, sondern ihre Land auf der Suche nach besseren Lebensumständen verlassen haben. Solche Auswanderungsmotive sind eigentlich keine gültigen Asylgründe. Aber für einen Rechtsstaat gilt: Solange nicht klar ist, dass die Eritreer tatsächlich unbehelligt in ihre Heimat zurückkehren können, darf man sie auch nicht zurückschicken. Denn ein humaner Staat kann es nicht riskieren, Menschen Gewalt und Folter auszusetzen. Wer mag es den Eritreern also vergönnen, wenn sie das grosszügige Bleibeangebot der Schweiz entsprechend nutzen?
Nebst den anerkannten Flüchtlingen bleiben auch die vorläufig aufgenommenen Asylzuwanderer meist für immer in der Schweiz. Sollten die Behörden doch einmal zum Schluss kommen, dass eine Ausreise zumutbar ist, so steht den Rückreise-Unwilligen ein ganzes Arsenal an Einsprache- und Rekurs-Möglichkeiten zur Verfügung. Denn ein Rechtsstaat muss garantieren, dass Behördenentscheide angefochten werden können. Und wer mittellos ist, dem werden Gratisanwälte zur Seite gestellt. Es darf nicht sein, dass jemand seine Rechte nicht wahrnehmen kann, nur weil er kein Geld hat.
Die Stärke des Volkes
Also wird im Asylwesen munter drauf los prozessiert – monatelange, jahrelang. Sind die Schweizer Rechtsmittel ausgeschöpft, stehen noch die internationalen bereit. Darum stoppt nicht selten ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine bereits beschlossene Ausschaffung. Denn auch das gehört zu einem modernen Rechtsstaat, angeblich: Dass er sich in überstaatlichen Konventionen und Abkommen verpflichtet, die Menschenrechte zu achten und internationale Gerichtsurteile zu befolgen.
So bleiben Tausende, ja Zehntausende Flüchtlinge in der Schweiz, von denen bei vielen offensichtlich ist, dass sie das Asylrecht missbrauchen. Und weil die grosse Mehrheit der Asylanten sich nicht selber durchbringen kann, muss die Allgemeinheit für sie aufkommen. Die Existenzsicherung gehört ebenfalls zu den Garantien, die ein humaner Staat gibt. Die Stärke des Volkes messe sich am Wohl der Schwachen, heisst es in der Bundesverfassung. Damit driftet der Staat, je menschlicher er sich gibt, immer mehr in die Handlungsunfähigkeit ab. Bei all den Rechten, die er dem Einzelnen gewährt, und bei allen Garantien, die er im Namen der Rechtsstaatlichkeit abgibt, wird er allmählich machtlos gegenüber denjenigen, die diese Rechte bewusst missbrauchen.
Die letzte Zuflucht für rechtskräftig abgewiesene Immigranten, die sich jahrelang vergeblich gegen ihre Ausweisung gewehrt haben, ist der Härtefall: Wenn eine Immigranten-Familie nach all den Jahren integriert ist, die Kinder zur Schule gehen und ihre Freunde hier haben, dann ist eine Ausschaffung eben doch unzumutbar. Also geht der Staat wieder in die Knie und gewährt ein dauerndes Aufenthaltsrecht.
Der humane Rechtsstaat steht am Ende nach Strich und Faden betrogen da. Die Menschlichkeit, die er garantiert, hat sich zur Unmenschlichkeit gegenüber den Einwohnern verwandelt, die die Wahrheit sagen, arbeiten gehen und ihre Steuerrechnungen pünktlich bezahlen.
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