Hilfe für erschöpfte ElternIhr Kind ist ein Schrei-Baby? Das können Sie tun
Wenn Säuglinge stundenlang weinen, kann das Mütter und Väter zur Verzweiflung bringen. Was dahinter steckt und wo man sich Unterstützung holen kann.

Heute schlummert der einjährige Hugo nachts zufrieden in seinem Bettchen. Doch das war nicht immer so. «Mit sechs Wochen begann es», erinnert sich seine Mutter Joanna Jaatinen-Tero. «Hugo hatte grosse Mühe einzuschlafen. Obwohl er sehr müde war, wehrte er sich schreiend dagegen.»
Die in Zürich wohnhaften Eltern suchten daraufhin wöchentlich die Mütter- und Väterberatung auf. Auf deren Anraten unterzogen sie die Fütterungszeiten von Hugo einem strengen Rhythmus. Es wurde besser, allerdings nur vorübergehend.
Grosser Leidensdruck
Hugos Eltern stehen mit ihrem schreienden Baby nicht allein da. So weinen drei von vier Babys in den ersten drei Monaten deutlich mehr als die Zeit danach, durchschnittlich mindestens eine Stunde pro Tag. Ungefähr jedes zehnte hingegen ist ein sogenanntes Schreibaby, das exzessiv ohne erkennbaren Grund weint. Auf Beruhigungsversuche der Eltern reagiert der Säugling kaum, und alleingelassene Eltern kommen rasch in einen Erschöpfungszustand.
Man spricht von einem «Schreibaby», wenn es mehr als drei Stunden am Tag weint, und dies mehr als drei Tage in der Woche und länger als drei Wochen.
Doch diese 3-Stunden-Regel hilft den betroffenen Eltern wenig. Massgebend ist der Leidensdruck der Eltern: «Wenn das Baby mehr weint, als die Eltern ertragen, führt dies zu einer Stresssituation», erklärt der Zürcher Kinderarzt Raffael Guggenheim, der nebst einer eigenen Praxis eine Sprechstunde für Schreibabys am Triemlispital sowie ein stationäres Programm für Eltern und Säugling leitet.
Während die einen Eltern schon nach 30 Minuten gestresst seien, würden andere deutlich mehr ertragen, beobachtet der Kinderarzt. Wichtig sei jedoch, dass die Eltern frühzeitig Hilfe holten – spätestens aber, wenn sie ein wachsendes Schlafdefizit haben. Immer wieder können dann auch Aggressionen aufkommen, und die Eltern fühlen sich der Situation hilflos ausgeliefert.
Dass Babys heute generell mehr schreien, glaubt Guggenheim nicht. Die moderne Kleinfamilie lasse aber viele Eltern in diesen Belastungssituationen «allein», unterstützende Familienangehörige fehlten oft. Ausserdem habe man dies früher einfach «hingenommen», während man heute sensibler auf die Bedürfnisse von Säuglingen und Eltern eingehe.
Nichts falsch gemacht
Angesichts eines ständig schreienden Babys, das sich nicht beruhigen lässt, überrascht es nicht, dass viele Mütter und Väter Selbstzweifel bekommen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Neben einer belastenden Schwangerschaft oder einer traumatischen Geburt sind Babys eigentlich «physiologisch Frühgeborene», weil sie zu wenig Platz im Bauch der Mutter haben.
Die ersten drei Monate ihres Lebens wären sie daher am besten noch im Mutterleib oder in einer Bauchfalte, wie wir es von den Kängurus kennen. Die Anpassungsleistungen, die die Kinder in dieser Zeit erbringen müssen, sind tatsächlich enorm. Sei dies wegen des Aufbaus des Verdauungsapparats, der Motorik oder des Nervensystems. Zudem haben sie sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. Kein Wunder, dass dies für manche Babys anstrengend ist und sie sich unwohl fühlen – häufig auch noch beobachtet, wenns ums Essen und die Verdauung geht.
Organische Ursachen sind selten
Bei einem Schreibaby sucht man immer erst nach organischen Ursachen. «Diese sind glücklicherweise selten», stellt Kinderarzt Guggenheim fest. Dazu gehören beispielsweise eine mögliche Milchunverträglichkeit oder ein schmerzhaftes Aufstossen (Reflux). Ist eine Milchunverträglichkeit ausgeschlossen, wird der Still- oder Fütterungsrhythmus angepasst. Mit dem Eindicken der Milch lässt sich allenfalls der Reflux vermindern.
Säuglinge können aufgrund der Geburt unter starken Verspannungen leiden, was sich in einer verkrampften Körperhaltung ausdrückt. Diese Verspannungen führen zu verstärktem Druck auf den Darm und dies wiederum zu vermehrtem Reflux.
Auch die Lagerung kann bei solchen Verspannungen zu gehäuftem Schreien führen. So gibt es Kinder, die mögen die Bauch- oder Rückenlage überhaupt nicht. Andere vertragen es nicht, in einem Maxi-Cosi zu sitzen. Das enge Einwickeln in ein Tuch, das sogenannte Pucken, lindert Beschwerden.
Beruhigend wirkt weiter, wenn man das Baby regelmässig mit einem Tragetuch auf Rücken, Bauch oder Hüfte bindet. In dieser Situation können Physiotherapie, Osteopathie oder womöglich Craniosakral-Therapie helfen.
Der Kinderarzt oder die Kinderärztin versucht möglichst schon von Beginn an, das soziale Umfeld miteinzubeziehen. Zu diesem Zweck wird mit den Eltern ein 24-Stunden-Protokoll geführt, um sich ein Bild des kindlichen und elterlichen Alltags zu machen. Manchmal hilft eine medikamentöse Begleitung oder der Zuzug einer Kinderpsychologin. Mit deren Hilfe können Belastungen innerhalb der Familie angegangen werden.
Hilfreiches Schlafprotokoll

Zurück zur Familie Jaatinen-Tero: Als Hugo mit sechs Monaten Schlafprobleme bekam und mehrmals in der Nacht weinend aufzuwachen begann, suchten die Eltern Rat in der Schreibaby-Sprechstunde im Triemlispital.
Sie erkannten anhand eines Schlafprotokolls, dass ihr Sohn ein «Kurzschläfer» ist und mit lediglich sieben Stunden Schlaf nachts auskommt. Folglich mussten die Eltern schauen, dass Hugo tagsüber nicht mehr als eineinhalb Stunden schläft.
Weil beide Eltern arbeiten, hatten sie nur beschränkte Kontrolle über Hugos Tagesschlaf. Die Eltern konnten aber die Kita-Betreuerinnen dazu anhalten, Hugo rechtzeitig aus seinem Mittagsschläfchen aufzuwecken. «Jetzt funktioniert das», freut sich Joanna Jaatinen-Tero.
Ausserdem lernten die Eltern in der Schreibaby-Beratung, dass die eigene Erholung genauso wichtig ist. So schlief die Mutter oder der Vater je einmal die Woche im benachbarten Hotel, oder sie besuchten wechselweise ihre Eltern für ein paar Tage in Finnland. Ebenso nahmen die beiden ihre wöchentlichen Sportaktivitäten wieder auf. «Wir haben Hugo geholfen, indem wir uns halfen», fasst der Vater die Lösung des Problems zusammen.
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