«Helmut Kohl wusste um seine Ecken und Kanten»
Das Requiem im Dom von Speyer würdigte Helmut Kohl als Mensch. Auch von seinen Schwächen war die Rede.

Man sagt, jemand geht durch das grosse Tor, wenn er einen grossen Abschied bekommt. Der Tag zum Abschied von Helmut Kohl ist gestaltet als das grösste nur denkbare Tor, und es hat eine besondere Symbolik, dass sein Sarg durch das Hauptportal nach draussen getragen wird. Der Dom in Speyer gehört zu Helmut Kohl ungefähr so wie Oggersheim und Saumagen, und vor 46 Jahren war es Kohl selbst, der dem Dom dieses Portal schenkte - als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, der er damals war. Und jetzt verlässt er diesen Dom durch dieses Portal.
Abschied: Nach einem europäischen Trauerakt in Strassburg ist der Altkanzler am Abend im Dom von Speyer verabschiedet worden. (Video: Tamedia/AFP)
Die Europäische Union hat am Vormittag in Strassburg vor allem Kohl, den Staatsmann, geehrt. Hier in Speyer übernimmt die katholische Kirche. Bei ihr geht es um Helmut Kohl, den Menschen, und sie fährt alles an Pomp und Pathos auf, was sie zu bieten hat: die grosse, erst neun Jahre alte Orgel über dem Hauptportal; zwei Bischöfe, einen Erzbischof und Nuntius, zwei Kardinäle, Domchor und Domkantor. Es gibt Bach und Gregorianik, und wenn man genau darauf achtet, wer die Komponisten sind, so fällt einem auf, dass diese Auswahl wiederum auch Kohl, den Staatsmann, ehrt.
Der Bischof beschönigt nichts
Es hätte ihm gefallen, hier nicht nur Bach und Schütz, sondern auch Maurice Duruflé und César Franck, Mozart, John Rutter und Rachmaninow zu hören - die Werke deutscher und französischer Komponisten, eines Österreichers, eines Engländers und eines Russen also. Die in Speyer gespielte Fassung des Sanctus hat Rutter, Jahrgang 1945, eigens für dieses Requiem geschrieben.
Der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann leitet das Totenamt. Er legt erkennbar Wert darauf, den Menschen Kohl in seinen Stärken zu zeigen, aber bitte auch in seinen Schwächen. Schon seine Begrüssung: Er beginnt, indem er Maike Kohl-Richter nennt, die Witwe und schliesst dann allgemein die «Angehörigen, Freunde und Weggefährten» an. Aber dabei belässt er es nicht: «In meinen Gruss möchte ich herzlich einschliessen die Söhne unseres Verstorbenen, Walter und Peter, mit ihren Familien.»
Dieckmann statt die Söhne
Kohl hatte seine Nachkommen nicht mehr sehen wollen vor seinem Tod, und dort, wo bei einer Trauerfeier normalerweise die Kinder, Schwiegerkinder und Enkel gehen, hinter dem Sarg, da gehen bei diesem Verstorbenen Kai Diekmann, der langjährige Chefredakteur der Bild, und Stephan Holthoff-Pförtner, Kohls Anwalt. Zur Beerdigung wollten die Söhne nicht mitkommen, hatte Walter Kohl vorher angekündigt.
«Helmut Kohl wusste, dass er viele Dinge erreichte, aber manches auch zu kurz gekommen war.»
Ist es diese Konstellation, auf die der Bischof in seiner Predigt anspielt? Der Rahmen, den die Kirche liefert, ist ja perfekt; so perfekt, wie der Rahmen, den am Vormittag auch die EU lieferte. Bischof Wiesemann nutzt die Messe, um zu berichten von den letzten beiden Besuchen Kohls im Dom, kurz vor Weihnachten 2016 und vor Weihnachten 2015.
Sie hätten gemeinsam eine Kerze bei der Mutter Gottes angezündet, das Vater unser und das Ave Maria gebetet, und Wiesemann sagt: «Ich denke, Helmut Kohl wusste auch um seine Ecken und Kanten. Dass er viele Dinge erreichte, aber manches auch zu kurz gekommen war.» Dass er Kohl anschliessend nicht im Familiengrab in Ludwigshafen beerdigen wird, sondern hier in Speyer, hinter der Kirche St. Bernhard, gut einen Kilometer vom Dom entfernt - Wiesemann will es als Geste interpretieren.
Die Kirche wurde 1953 von Deutschen und Franzosen zur Versöhnung gebaut, die Aussenminister Schuman und Brentano setzten den Grundstein. Demnach kann Kohl, dieser so geschichtsbewusste Mensch, an keinem geeigneteren Ort begraben werden als hier; und nicht neben Hannelore, wie es die Öffentlichkeit vielleicht für geboten hält.
Ausflügler mit Smartphones
Wenn ein ehemaliger Bundeskanzler beigesetzt wird, kann das nie ein nur privates Ereignis sein. An einem solchen Tag vergewissert sich auch die Republik ihrer selbst, an einem solchen Tag werden Zeichen gesetzt.
Indem bei der Trauerfeier in Strassburg Felipe Gonzalez sprach, der langjährige Ministerpräsident Spaniens und ein Freund Helmut Kohls, wurde der Bogen zur Trauerfeier für Willy Brandt geschlagen: auch damals, 1992 in Berlin, hatte Gonzalez gesprochen. Und indem der Sarg Kohls von Strassburg über Ludwigshafen an den Rhein, ein paar Kilometer nördlich von Speyer gebracht wurde, schlug man den Bogen zur Trauerfeier für Konrad Adenauer 1967.
Dessen Sarg wurde damals auf einem Schiff von Köln nach Bad Honnef gefahren. Die Bilder von damals zeigen ein Meer aus Menschen, Zehntausende Trauernde, mindestens. Sie drängten sich am Ufer und auf den Brücken. Im Vergleich dazu ist die Anteilnahme in Speyer sehr viel geringer und, um es höflich zu sagen, anders.
Auf den Rheinwiesen, diesseits und jenseits des Ufers, verlieren sich ein paar Menschen. Auf der Brücke, direkt an der Anlegestelle: etwa drei Dutzend. Am Ufer immerhin sind es ein paar Hundert, aber sie erwecken kaum den Eindruck, Trauergäste zu sein: Es gibt am Ufer zwei Ausflugslokale, dort sitzen die Leute. Ein bisschen Aperol, ein bisschen Kuchen, und dazwischen Warten auf Kohl.
Einer am Wegesrand ist im Radlerdress gekommen, «Fred Rompelberg Bicycle Team» steht drauf, und wo es sonst, auch bei Helmut Schmidt vor anderthalb Jahren in Hamburg, üblich war, dem vorbeifahrenden Sarg zu applaudieren, sind in Speyer alle mit ihren Smartphones beschäftigt. Zum Dom hatten Trauernde nur auf Einladung des Bundesinnenministeriums Zutritt, aber als Bundeswehroffiziere den Sarg hinaustragen, sind die Ehrengäste auch nicht anders: All die am Bank-Rand halten mit ihren Handys auf die Szene.
Bitte kein CDU-Verein im Himmel
Was wünscht man einem Verstorbenen? Bevor die Offiziere den Sarg nehmen und aus dem Dom tragen, gefolgt, von der Witwe, Kai Diekmann und Bill Clinton, in dieser Reihenfolge - vorher sagt Bischof Wiesemann, der Herr möge Helmut Kohl «Wohnung und Heimat bei dir geben». So muss es ein Bischof sagen, so schreibt der Ritus es vor.
Aber man kann es auch anders sagen, ganz anders - so wie Jean-Claude Juncker das am Vormittag in Strassburg gemacht hat, in seiner Rede. Juncker nahm für sich in Anspruch, als Freund und nicht als EU-Kommissionspräsident zu sprechen, und als er zum Ende kam, äusserte er eine Bitte, vielleicht war es sogar eine Mahnung, an den Mann in dem Sarg neben ihn: «Du hast genug getan, ruhe in Frieden, Herr Bundeskanzler und Freund. Du hast Ruhe verdient, ewige Ruhe.» Und Helmut solle im Himmel bloss nicht als erstes auf den Gedanken kommen, einen CDU-Ortsverein zu gründen.
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