Mit Literatur gegen EwiggestrigeGut gegen Böse am schwäbischen Meer
Der neue Roman «Schmelzwasser» des Basler Schriftstellers Patrick Tschan beleuchtet die Wirren der deutschen Nachkriegszeit.

Ungewöhnliches tut sich 1947 am deutschen Ufer des Bodensees. In der Kleinstadt Überlingen eröffnet Emilie Reber, die in der französischen Résistance gewesen war, eine Buchhandlung. Mit lauter von den Nazis verbotenen und verbrannten Titeln sowie aktuellen Neuerscheinungen zur deutschen Schuld fordert sie das Publikum zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit heraus.
Warum gerade in Überlingen, dessen Name zwar nie genannt wird, das aber eindeutig Schauplatz des Romans ist? Das beschauliche Städtchen am «schwäbischen Meer» erinnert Emilie an ihren Aufenthalt in Südfrankreich, wo viele deutsche Literaten Schutz vor der Verfolgung gesucht hatten. Aus Paris hat die Aktivistin sich kostbare Exemplare der Deutschen Freiheitsbibliothek besorgt, die Emigranten 1934 dort gegründet hatten. Zwar wurde diese Bücherei nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1940 zerstört. Doch in der Fantasie des Basler Schriftstellers Patrick Tschan ist vieles möglich. Sein neuer Roman folgt der Devise «Was wäre, wenn …» und inszeniert an einem überschaubaren Fallbeispiel die Fehden der deutschen Nachkriegszeit.
Kistenweise Chablis
Denn etlichen Altnazis, aber auch andern, die einfach nur einen Strich unter das Geschehene ziehen möchten, gefällt Emilie Rebers Tun ganz und gar nicht. Es kommt zu Attentaten auf ihren Laden. Doch sie findet mutige Mitstreiterinnen: Die örtliche Kleiderhändlerin nimmt US-Jeans ins Sortiment auf, später auch Versandartikel von Beate Uhse – und lässt sich von ihrem uneinsichtigen Gatten scheiden. Die junge Friseurin Ilse macht ihren Salon zu einem Hotspot der neuen Trends aus Amerika. Und auch der jüdische Rückkehrer Ignaz Franck, der in den USA Drehbücher schrieb und nun sein Leben mit Groschenromanen verdient, unterstützt die Frauen. Er eröffnet ein Plattengeschäft und rockt Überlingen so richtig durch.
Das alles ist nicht nach dem Sinn der gestrengen Emilie Reber, die nur für die hochrangige Literatur in gebundener Form lebt. Als ein Verlagsvertreter ihr die neue Taschenbuchreihe Rororo (Rowohlts Rotationsromane) schmackhaft machen will, schmeisst sie ihn raus. Neben ihrer Mission der Aufklärung gönnt sie sich nur eine einzige Leidenschaft: französischen Chablis. Dank Kontakten zur französischen Verwaltung bestellt sie den edlen Tropfen, der akkurat zu den Bodensee-Felchen passt, gleich kistenweise und tröstet damit sich selbst und ihren Club der Aufrechten über so manche Niederlage hinweg.

«Schmelzwasser» ist der fünfte Roman von Patrick Tschan, der 2012 mit «Polarrot» (wo es auch um die Verbindung der Basler Chemie zu Nazideutschland ging) zu Recht grossen Erfolg hatte. Der Titel bezieht sich nicht nur auf die legendäre Bodensee-Gfröörni von 1963, mit der die Geschichte endet. Mit dem Eis löst sich auch der Widerstand der Ewiggestrigen auf.
Einmal mehr zeigt sich Tschans Talent, private Abenteuergeschichten mit Zeitgeschichte zu verflechten. Doch der neue Roman krankt daran, dass man bald einmal weiss, dass sich hier alles zum Guten wendet. Und dass er zu weiten Teilen aus – manchmal geschwätzigen – Dialogen besteht, in die immer wieder kulturgeschichtliche Versatzstücke eingebaut werden.
Es kommt zu Wiederholungen, und die Figuren wirken ebenso konstruiert wie gewisse Zuspitzungen der Handlung. So etwa eine befreiende Säntis-Besteigung oder Friseurin Ilses Reise per Roller an die italienische Riviera, deren amouröse Folgen sie selbstverständlich emanzipatorisch löst. Und so hat man bei der Lektüre eher das Gefühl, einer etwas gar gut gemeinten deutschen TV-Produktion zum Thema Vergangenheitsbewältigung beizuwohnen als literarisch überrascht und mitgerissen zu werden.
Patrick Tschan: «Schmelzwasser», 330 Seiten, Braumüller-Verlag, 2022; ca. 28 Franken
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