100 Jahre «Ulysses» von James JoyceGrosses Kino für die vergessene Tochter
Die irische Filmemacherin Áine Stapleton stellt in ihrem Film «Horrible Creature» Lucia Joyce ins Zentrum. Die tänzerische Spurensuche in der Schweiz ist ebenso poetisch wie betörend.

Áine Stapleton steht derzeit unter grossem Druck. Gerade noch rechtzeitig zur Schweizer Kinopremiere ihres zweiten Films «Horrible Creature» hat die irische Regisseurin, Choreografin und Tänzerin mit Jahrgang 1983 die deutsche Untertitelung abgeschlossen. Zudem bereitet sie ihre neue Multimedia-Installation «Somewhere in the Body» vor, die 2022 in Dublin, Triest und Strassburg gezeigt werden soll.
Bei beiden Arbeiten steht Lucia Joyce im Mittelpunkt. Viele Biografen belächeln James Joyce’ Tochter als familiäre Randerscheinung, die den grossen Schriftsteller mit ihren eigenen künstlerischen Ambitionen und einer labilen Psyche von seiner Arbeit ablenkte. Für die Regisseurin Stapleton ist Lucia Joyce, sie lebte von 1907 bis 1982, aber eine faszinierende Persönlichkeit, die Mitte der 1930er-Jahre von einer professionellen Tänzerin und begnadeten Musikerin zur Psychiatriepatientin wurde.
Traumata statt Krankheit
Lucia Joyce verstarb 75-jährig in einer Klinik im britischen Northampton. «Trotz ihrer langen Anamnese ist es nicht ganz einfach, an Informationen über Lucia heranzukommen», sagt Stapleton im Zoom-Gespräch. Denn: «Stephen Joyce, der langjährige Nachlassverwalter von James Joyce, liess bekanntlich einen Teil von Lucias Briefverkehr mit ihrem Vater und dem Schriftsteller Samuel Beckett vernichten.»
Stapleton zweifelt daran, ob Lucia Joyce tatsächlich schizophren war, wie es von einigen ihrer Ärzte diagnostiziert wurde. Vielmehr führt sie die Unberechenbarkeit von Lucia Joyce auf eine posttraumatische Stressreaktion zurück, ausgelöst durch die schwierigen familiären Verhältnisse, unter denen sie aufgewachsen war – und auf möglichen sexuellen Missbrauch.
Wie Lucia Joyce habe auch sie einige persönliche Traumata bewältigen müssen, sagt Stapleton. Nicht umsonst zieht sie in ihrem ersten Film «Medicated Milk» (2016) Parallelen zwischen ihrer Biografie und derjenigen von Lucia Joyce. «In meinen bisherigen Filmen über Lucia erforsche ich, wie man seinen eigenen Körper tiefer erfahren, Traumata durch das Medium Tanz verarbeiten und so einen Weg zur Heilung finden kann», erklärt die Regisseurin.
Tanz auf dem Simplon
Für «Horrible Creature» wählte Stapleton einen radikalen und doch sinnigen Ansatz. Sie filmte ihre international renommierten Kolleginnen, die Tänzerinnen Michelle Boulé (USA), Sarah Ryan (Irland) und Céline Larrère (Frankreich), dabei, wie diese sich in die Rolle der Lucia Joyce hineintanzten. Gedreht wurde an Schweizer Schauplätzen, die in Lucia Joyce’ Vita wichtig waren.
So tanzen die drei Frauen auf dem Simplon, wo die Familie Joyce 1915 aus Italien in die Schweiz eingereist war, im Zürcher Hutten-Schulhaus, wo Lucia Joyce die deutsche Sprache erlernte, und in der psychiatrischen Abteilung des Hôpital De Prangins unweit von Genf.
Aus dem Off werden im Film Auszüge aus Lucias Briefen und Krankenberichten vorgelesen. Die Musik von David Best und Ed Chivers, die von der New Wave angehaucht ist, verstärkt die düstere Stimmung der verzweifelten Choreografien, der dunklen Gänge und Lucia Joyce’ tragischer Geschichte.
Sie beeinflusste seinen Roman
Gleichzeitig hat «Horrible Creature» eine poetische Vitalität, die diesen unkonventionellen Dokumentarfilm über seine grundlegende Tragik hinwegrettet. «Ich habe versucht, die gängigen Vorurteile gegenüber Lucia zu durchbrechen», sagt Stapleton. «Mir war es wichtig, ihre vielschichtige Persönlichkeit aufzuzeigen und die Leidenschaft erfahrbar zu machen, die sie beim Tanzen wohl erfahren hat.»
Im Rahmen der Recherchearbeiten zur geplanten Installation «Somewhere in the Body» geht Stapleton derzeit bei der James-Joyce-Stiftung in Zürich sowie beim gefeierten Joyce-Übersetzer Fritz Senn ein und aus. «Somewhere in the Body» handelt laut Stapleton davon, wie Lucia Joyce und das Medium Tanz «Finnegan’s Wake», den Roman ihres Vaters, beeinflusst haben. «Ganz besonders will ich darauf eingehen, wie Lucias Biografie die verschiedenen Grobfassungen von ‹Finnegan’s Wake› geprägt hat, die James Joyce über viele Jahre verfasst und wieder verworfen hat.»
«Horrible Creature», IRL/CH, 2020; Regie: Áine Stapleton; mit Michelle Boulé, Sarah Ryan und Céline Larrére; 65 Minuten. Der Film wird am Sonntag, 13. Februar, um 12 Uhr im Kino Riffraff in Zürich gezeigt.
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