Gone Johnny Gone
Chuck Berry hat den Rock 'n' Roll auf den Punkt gebracht. Jetzt ist der Autor von Klassikern wie «Johnny B. Goode» oder «Roll Over Beethoven» mit 90 Jahren gestorben. Ein Nachruf.
1985 stellte sich Amerika vor, der Rock 'n' Roll sei von einem Teenager aus der weissen Suburbia erfunden worden. Es war in «Back to the Future», als Michael J. Fox als Marty McFly in die Fünfzigerjahre zurückreiste, um die Ehe seiner Eltern einzufädeln und nebenbei einen Musiker namens Chuck zum «neuen Sound» zu inspirieren.
Seither wird darüber diskutiert, ob es sich bei dieser berühmten Filmszene um eine Hommage oder doch um einen Akt kultureller Übergriffigkeit handelt, um einen Versuch, sich die Popgeschichte ohne schwarze Pioniere zu träumen. So oder so war der Song richtig gewählt: Denn wer immer vom Anfang des Rock 'n' Roll erzählen will, muss auch von Chuck Berry erzählen und von «Johnny B. Goode».
Chuck Berry ist tot: Rock'n'Roll-Legende Chuck Berry ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Video: Tamedia
Eigenartig nur: Chuck Berry war schon 32 Jahre alt, als er «Johnny B. Goode» veröffentlichte. Das war 1958, drei Jahre nach seinen ersten Singles, auf denen er den «neuen Sound» ja bereits ziemlich schlüssig formuliert hatte. Auch andere Sänger wie Elvis Presley oder Jerry Lee Lewis hatten unterdessen die Herzen der amerikanischen Teenager gestürmt und brachten ihre Lieder zuverlässig in die Hitparaden. Und doch gilt «Johnny B. Goode» als Prototyp der Rockmusik; so sehr, dass der Song ausgewählt wurde, auf der Raumsonde Voyager 1 ins All zu fliegen und hörbegabte Ausserirdische von der stupenden Musikkultur auf der Erde zu überzeugen.
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Und tatsächlich, es fällt schwer, sich eine Welt mit Rock 'n' Roll, aber ohne «Johnny B. Goode» vorzustellen. Gäbe es in der Geschichte eine Logik, hätte das Genre mit diesem Song begonnen, der das Wesen und die Geschichte dieser Musik in sagenhaften zwei Minuten und vierzig Sekunden bündelt. Wie jeder gute Rock-'n'-Roll-Song klingt auch dieser in der Erinnerung stets schneller und wilder, als er in Tat und Wahrheit ist. Er beginnt mit einem emblematischen Intro auf der elektrischen Gitarre, das vorwärts stürmt, das aber auf eine seltsam maulfaule Weise: Da will jemand die Welt erobern, sich dabei aber nicht allzu sehr ins Zeug legen müssen.
Dieser «kleine schwarze Junge»
Das Lied erzählt die Geschichte des gleichnamigen Musikers. «Johnny» dürfte sich dabei auf Johnnie Johnson beziehen, den Förderer und späteren Pianisten von Chuck Berry; «Goode» auf die gleichnamige Strasse, an der Charles Edward Anderson Berry in St. Louis aufgewachsen war; und mit dem «B.» dürfte sich der Sänger selbst in der Rockgeschichte verewigt haben. Dieser Johnny B. Goode war ein «little coloured boy», bevor Berry den Text auf Druck der Plattenfirma auf «little country boy» ändern musste. Doch auch so wird klar, dass Goode als schwarzer Junge vom Land das Leben eines Bluessängers lebt. Er wandert entlang der Eisenbahnlinie, die Gitarre auf dem Rücken, und setzt sich dann in den Schatten eines Baumes, um im ratternden Takt der vorbeifahrenden Züge ein paar Akkorde zu spielen und sich an das Versprechen seiner Mutter zu erinnern: «Many people coming from miles around / To hear you play your music when the sun goes down.» Eines Tages werde er ein Star sein.
«Johnny B. Goode» lebt von der Spannung, dass die Musik nicht zu den Worten passt. Zu den Bildern, die der Sänger beschwört, stellt man sich eine schwermütige, akustische Bluesgitarre vor. Aber die Musik hat den Sprung zum elektrischen Rock 'n' Roll schon gemacht. Sie platzt vor Selbstbewusstsein, und wenn Chuck Berry im Refrain schliesslich das berühmte «Go Johnny go» singt, klingt das weniger wie ein Ansporn als wie ein Triumph. Im Text erzählt dieser «kleine schwarze Junge» vom Tramper-Leben auf der Landstrasse, das er führte – und in der Musik vom «neuen Sound» der Stromgitarre, der ihn davon erlöste. Dieser Song ist die Geschichte des Rock 'n' Roll auf engstem Raum und in höchster Intensität. Es gibt keinen besseren Rocksong.
Powerakkorde, schnelle, gedrungene Licks
Was nicht heisst, dass andere Rock-'n'-Roll-Sänger nicht wilder waren. Chuck Berry hatte nicht den Irrsinn von Jerry Lee Lewis oder das sexuelle Innuendo von Elvis Presley. Aber wenn es darum ging, die neue Marktmacht der Teenager und damit den Aufstieg der Jugendkultur in griffige, ja triumphale Lieder zu fassen, gelang dies niemandem besser als diesem bereits etwas älteren Musiker, der als Coiffeur und Kosmetiker gearbeitet und nach Raubüberfällen bereits drei Jahre im Jugendgefängnis abgesessen hatte.
Ab 1955 formulierte Chuck Berry in einer Reihe von Hits, was es geschlagen hatte: In «Roll Over Beethoven» gab er der Hochkultur den neuen Tarif durch; in «Sweet Little Sixteen» liess er das ganze Land mit einer Sechzehnjährigen tanzen; und in «School Day» trafen sich die Schüler nach dem Glockenschlag an der Jukebox und gaben die Losung aus: «Hail, hail rock and roll / Deliver me from the days of old.»
In seinen Songs feierte Chuck Berry also ganz den Moment, in dem Rock 'n' Roll zu sich kam, doch in seinem Gitarrenspiel wies er direkt in die Zukunft. In seinen Händen wurde die elektrische Gitarre zum Leitmedium der Rockmusik, und es gab in den 60er-Jahren keinen aufstrebenden Gitarristen, der sich nicht bei Berry bedient hätte, bei seinen Powerakkorden, seinen schnellen, gedrungenen Licks, seinen Bendings über zwei Saiten. In England coverten ihn die Beatles und die Rolling Stones, und John Lennon meinte, man könne Rock 'n' Roll notfalls auch einfach «Chuck Berry» nennen. In den USA war Bob Dylan beeindruckt von den teilweise surrealen Lyrics, die Berry in späteren Songs wie «Brown Eyed Handsome Man» einbaute: Darin verliert die Venus von Milo ihre Arme im Ringen um einen schönen, offenbar schwarzen Mann.
Ein Museum aus Fleisch und Blut
Die Beach Boys wiederum guckten sich bei ihm ihren grossen Hit «Surfin' U.S.A.» ab, worauf sich Chuck Berry vor Gericht einen Anteil an den Tantièmen des Song erstritt. Hier zeigte sich eine andere Seite dieses Musikpioniers. So sehr er in seinen Liedern den Rock 'n' Roll feierte, so verbittert machte ihn bald das Geschäft, das weisse Männer mit ihm machten. Als er 1955 bei Chess Records in Chicago seine erste Single herausbrachte, «Maybellene», musste er die Autorenschaft mit Russ Fratto teilen, dem Vermieter der Labelbosse, und mit Alan Freed, einem DJ, der bekannt dafür war, in seiner Show gern jene Songs zu spielen, an denen er beteiligt worden war. Noch in seiner späten Karriere, als er keine Platten mehr machte und nur noch Konzerte spielte, witterte Chuck Berry gerne Betrug. Bei Veranstaltern galt er als misstrauisch und unberechenbar.
Noch in seiner späten Karriere witterte Berry gerne Betrug.
Zur schlechten Laune trug aber bestimmt auch bei, dass seine besten Jahre längst hinter ihm lagen. 1959 war er erneut verhaftet worden, nachdem er mit einer Minderjährigen verkehrt hatte, und als er 1964 nach zwanzig Monaten das Gefängnis verliess, war die Musikwelt eine andere: Die jungen englischen Bands hatten den Rock 'n' Roll zum Rock weiterentwickelt und damit auch die USA erobert. 1972 hatte Chuck Berry mit dem eher peinlichen «My Ding-a-Ling» zwar nochmals einen – seinen grössten – Hit. Doch mehr und mehr verwandelte er sich nun in das, was man eine «lebende Legende» nennt; also in ein Museum aus Fleisch und Blut, das noch regelmässig auf Tournee ging und die alten Hits aufführte. Seine letzte Platte aber, die erschien schon 1979.
Doch im letzten Oktober kündigte Chuck Berry an seinem 90. Geburtstag ein Album mit neuen Songs an. «Chuck» soll im Juni erscheinen, aber sein Star wird die Veröffentlichung nicht mehr erleben. Charles Edward Anderson Berry starb am Samstag in seinem Haus in Wentzville bei St. Louis. Johnny ist gone.
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