Gewiss ist nur die Ungewissheit
Was bringt der Brexit dem Finanzplatz London? In offiziellen Stellungnahmen der Banken überwiegt Pessimismus.

Der Mensch lebt bekanntlich immer nur in der Gegenwart und niemals in der Zukunft. Das ist eines der Probleme, die sich der britischen Wirtschaft in Bezug auf den Brexit stellen: Dessen Befürworter verweisen nicht völlig zu Unrecht darauf, Europa verliere laufend an Bedeutung und stellen dem boomende Weltregionen in Asien, Amerika und Ozeanien gegenüber.
Im Hier und Jetzt allerdings ist Kontinentaleuropa mit weitem Abstand Grossbritanniens wichtigster Handelspartner und das dürfte mindestens noch einige Jahrzehnte so bleiben. Es bleibt also die Frage, wie der Ausstieg aus der Europäischen Union bewerkstelligt werden kann, ohne die gegenseitigen Handelsbeziehungen allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen.
Es geht um Einiges
Dabei kommt in einem weitgehend deindustrialisierten Land wie Grossbritannien der Finanzwirtschaft eine besondere Bedeutung zu. Und dort blickt man dem Brexit eher bang entgegen. Von bis zu 70 000 Arbeitsplätzen, die auf dem Spiel stünden, ist die Rede – und von fünf Milliarden Pfund Steuereinnahmen, die wegbrechen könnten.
Britische Finanzdienstleister, so wird befürchtet, könnten sogenannte Passporting-Rechte verlieren, also die Erlaubnis, ihre Produkte in der gesamten EU anzubieten. Auch der Schweiz habe man dieses Recht schliesslich nicht zugestanden, wird in Brüssel nun verschiedentlich argumentiert. Würde man Grossbritannien bevorzugt behandeln, könnten in Bern Begehrlichkeiten entstehen.
Längst bereiten sich Banken auf alle Eventualitäten vor. John Cryan, der britische CEO der Deutschen Bank, wendete sich vor drei Wochen in einer Videobotschaft an seine Beschäftigten: Sein Institut, so Cryan, stelle sich auf die Möglichkeit eines «harten» Brexit ein, also darauf, dass Grossbritannien den gemeinsamen Markt der EU verlassen könnte. Wichtige Geschäftszweige seiner Bank, so Cryan, würden dann «unvermeidlicherweise» nach Frankfurt verlagert werden.
Einfach abwarten ist keine Option
Die derzeitige Ungewissheit macht dem Finanzplatz zu schaffen. Manche könnten Verlagerungen beschliessen, bevor sie überhaupt wissen, was der Brexit bringt, um Risiken zu vermeiden. Die Deutsche Bank könne es sich nicht leisten, Entscheidungen hinauszuschieben, nur um das Ergebnis der Verhandlungen zwischen London und Brüssel abzuwarten, sagte Cryan.
Allein ist er mit derartigen Überlegungen nicht: Lloyd Blankfein, CEO der New Yorker Investmentbank Goldman Sachs, sagte im Mai der BBC, auch sein Unternehmen arbeite Pläne aus, Stellen nach Dublin oder Frankfurt zu verlagern. Freilich liess Blankfein auch durchblicken, dass London wohl auch nach dem Brexit Europas führendes Finanzzentrum bleiben wird: «Der Finanzplatz wird vielleicht auf der Stelle treten. Er könnte aber auch ein bisschen schrumpfen», orakelte der Amerikaner. Derzeit beschäftigt Goldman Sachs 6500 Mitarbeiter in London. Auch nach dem Brexit soll die City der wichtigste Standort in Europa bleiben.
Neben der Sprache hat die britische Hauptstadt einen entscheidenden Vorteil gegenüber Konkurrenten wie Frankfurt und Paris: Umzüge kosten Geld und Büroräume müssten anderswo erst einmal geschaffen werden. Leichtfertig wird wohl kaum ein Finanzinstitut grössere Verlagerungsvorhaben angehen; mögliche Kosten und mögliche Vorteile dürften diesbezüglich sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
Widersprüchliche Signale
Als wichtigster Verbündeter der Branche in der Regierung von Premierministerin Theresa May gilt Finanzminister Philip Hammond. Ende letzter Woche berichtete die Financial Times, Hammond habe sich im Kabinett mit seiner Forderung nach einer Übergangsfrist durchgesetzt, innerhalb der Grossbritannien Teil des gemeinsamen Marktes bleiben würde, dafür aber auch weiterhin Beiträge nach Brüssel überweisen und die Personenfreizügigkeit hinnehmen müsste, ohne bei Entscheidungen der EU mitreden zu können. Offenbar schwebt Hammond ein Übergang in zwei Phasen vor: Auf die erste Phase, die London und Brüssel mehr Zeit geben würde, um ein abschliessendes Arrangement auszuhandeln, würde eine «Implementierungsperiode» folgen, in der die neuen Regeln schrittweise eingeführt werden könnten.
Für die Finanzbranche wäre dies eine gute Nachricht: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Brexit zum Sprung ins Ungewisse wird, würde sich dadurch verringern. Laut Financial Times sollen auch überzeugte Brexit-Befürworter im Kabinett bereit sein, sich mit einer solchen Lösung abzufinden – vorausgesetzt, dass diese spätestens 2022 enden würde, also zum planmässigen Zeitpunkt der nächsten Parlamentswahlen. Aussenhandelsminister Liam Fox, der von jeher als überzeugter Gegner einer britischen EU-Mitgliedschaft gilt, dementierte in der Sunday Times allerdingseine solche Einigung: Die Personenfreizügigkeit, so sagte er, müsse in jedem Fall mit dem Brexit enden, also 2019.
Beinahe vergessen geht derzeit, dass der Brexit für die City durchaus auch Chancen bereithält. Dabei könnte allein der Anblick Michel Barniers, des Brexit-Chefunterhändlers der EU, die Briten daran erinnern: 2010, als EU-Kommissar für Dienstleistungen, zwang der Franzose London strengere Regeln auf, etwa eine Begrenzung der Banker-Boni. Der EU-kritische Daily Telegraph nannte ihn damals «den gefährlichsten Mann Europas». Unter Londoner Bankern, so sagen Kenner der Szene, sei eine skeptische Haltung der EU gegenüber weit häufiger anzutreffen, als die offiziellen Stellungnahmen von deren Arbeitgebern vermuten liessen. Überraschend ist das nicht: Die Neigung, die Finanzbranche zu regulieren, war auf dem Kontinent meist grösser als in Grossbritannien; von derartigen Fesseln könnte der Brexit die City befreien.
Kollateralschäden des Erfolgs
Wer der Finanzbranche nicht nahe steht, könnte zudem eine ganz andere, ketzerische Frage stellen: Könnte ein Schrumpfen des Finanzplatzes, sofern es in überschaubarem Rahmen stattfindet, London und Grossbritannien womöglich sogar nützen? Der Erfolg der City hat auch Kollateralschäden mit sich gebracht, etwa horrende Mieten und Hauspreise. Ausbaden müssen dies meist nicht die Beschäftigten der Branche. Allzu häufig haben britische Politiker in der Vergangenheit den Fehler begangen, die Interessen der Finanzindustrie und jene der gesamten Volkswirtschaft gleichzusetzen. Dadurch hat sich das Land in eine Abhängigkeit von einer einzigen Branche begeben, die es höchst krisenanfällig macht.
Um daran etwas zu ändern, bräuchte es freilich politische Massnahmen, etwa Verbesserungen bei der beruflichen Bildung. Dass Theresa Mays Regierung sich dazu aufraffen kann, ist eher unwahrscheinlich. Schliesslich ist sie mit dem Brexit vollauf beschäftigt.
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