Gesucht: Neue Freiheitshelden
Von bestimmten Asylsuchenden sollen präventiv DNA-Proben genommen werden. So will es der Nationalrat. Wie viel Freiheit opfern wir für mehr Sicherheit?

«Dass der Bundesrat die Grundrechte immer über unsere Sicherheit stellt, finde ich falsch.» Der Satz stammt von CVP-Präsident Christophe Darbellay, gesagt hat er ihn in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Gemünzt war er auf den Widerstand der Landesregierung gegen Darbellays Vorschlag, von bestimmten Asylbewerbern präventiv DNA-Proben zu nehmen und zu archivieren. Davon betroffen wären Asylbewerbergruppen mit überdurchschnittlich hoher Kriminalitätsrate.
Die Schweiz rüstet auf
Nationalrat Darbellays Satz berührt eine Grundfrage des Zusammenlebens, nämlich die Frage, in welchem Verhältnis Freiheit und Sicherheit stehen. Die Schweiz hat in der Vergangenheit sicherheitstechnisch aufgerüstet (und befindet sich damit international in guter Gesellschaft). Überwachungskameras, biometrische Pässe, DNA-Datenbanken: alles akzeptiert. Auch der Darbellay-Vorschlag erhält Zuspruch: Der Nationalrat hat der Motion diese Woche zugestimmt.
All diese Massnahmen erhöhen die Sicherheit. Aber mehr Sicherheit bedeutet immer einen Abbau von Freiheit. Und gefährdet damit den freiheitlichen Grundsatz, dass man den Bürger unbehelligt lässt, solange er nichts ausgefressen hat. Die Frage, wie weit man die Freiheit im Namen der Sicherheit einschränken darf, ist hochpolitisch. Für Rechte steht der Schutz der Sicherheit im Vordergrund, für Linke der Schutz der Freiheits- und Grundrechte.
Das Bemerkenswerte daran ist, dass der Freiheitsdurst historisch keine linke Eigenschaft ist, sondern vielmehr der Motor bürgerlicher Politik. Freiheit – von freien Märkten bis zur freien Fahrt – ist so etwas wie das rechte Ur-Anliegen. Demgegenüber steht das linkes Kernpostulat: die Gleichheit.
Haben Rechte ein widersprüchliches Freiheitsverständnis? Nein, ein komplementäres. Die von ihnen forcierte neoliberale Deregulierung der Märkte hat dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren die gesellschaftliche Ungleichheit verstärkt hat. Die Reichen wurden immer reicher, derweil die unteren Einkommen gar nicht oder nur wenig wuchsen. Dass Ungleichheit Unsicherheit bedeutet, ist eine Binsenwahrheit. Folglich liegt es auf der Hand, dass die Verfechter der Ungleichheit gleichzeitig Fürsprecher der Sicherheit sind. Es geht ja darum, Besitz und Wohlstand zu sichern – vor mittellosen Asylsuchenden und anderen Bedrohungen.
Mit anderen Worten: Die Freiheit – eines der höchsten Güter überhaupt, bei uns in Gestalt des nationalen Freiheitshelden Wilhelm Tell auf jedem Fünfliber verewigt – ist unter Druck, und zwar von rechts wie auch von links. Rechte wollen sie aus Sehnsucht nach Schutz und Sicherheit beschränken, Linke aus Sehnsucht nach Gleichheit. Und dann kommt noch der Staat, der die Freiheit aus volkspädagogischen Gründen demontiert: die Freiheit, zu rauchen, die Freiheit, sich ins Elend zu saufen, die Freiheit, ungesund zu essen und dabei dick zu werden – alles Freiheiten, von denen uns der Staat zu entwöhnen versucht.
Die Freiheit ist in Gefahr. Daran sind die Beschwörer und Verfechter des freien Markts zu einem schönen Teil selber schuld. Das Sicherheitsverlangen ist Ausdruck von Verlustangst. Und Letztere ist ihrerseits eine Folge der kapitalistischen Exzesse der Vergangenheit. Wer viel angehäuft hat, hat auch viel zu verlieren. Und fürchtet sich entsprechend. Auch der Umstand, dass von links mit radikalen Forderungen wie der 1:12-Initiative nach mehr Gleichheit gestrebt wird, kommt nicht von ungefähr. Sie sind eine Reaktion auf die deregulierte Gier, für die zumindest bis zur Finanzkrise ein fruchtbarer Boden bestand, mancherorts wuchert sie bis heute weiter.
Es droht die Selbsthilfe
Brauchen wir tatsächlich mehr Sicherheit? Brauchen wir mehr Gleichheit? Und ist es sinnvoll, nach dem Staat zu rufen und mit seiner Hilfe mehr Sicherheit und Egalität herbeizuzwingen zu versuchen?
Es ist gut, dass der Staat, nachdem er im Sinn und Geist des Neoliberalismus jahrelang schlechtgeredet worden ist, wieder an Statur gewonnen hat. Doch der Staat soll, darf und kann nicht alles regeln. Ralf Dahrendorf, der 2009 verstorbene, angesehene deutsch-britische Soziologe, schrieb in seinem letzten Essay: «Die wichtigsten Veränderungen, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nottun, betreffen Mentalitäten. Dass Unternehmer verantwortlich handeln, Aktionäre sich nicht von süssen Reden und Geschenken der Vorstände betören lassen und überhaupt der Pumpkapitalismus wieder einem Sparkapitalismus Raum gibt, ist nur sehr indirekt durch staatliches Handeln zu bewerkstelligen.»
Das heisst: Wir brauchen Wirtschaftsführer, die um die Bedeutung des sozialen Friedens wissen. Die sich bewusst sind, dass eine Gesellschaft mit wachsenden sozialen Gegensätzen keine gute, sondern eine unsichere, potenziell explosive Gesellschaft ist. Die sich dem Prinzip verpflichtet fühlen, dass der freie Markt nur dann nachhaltig funktioniert, wenn die Akteure gesellschaftliche Verantwortung tragen. Kurz: Gesucht sind Freiheitsheldinnen und -helden mit Verantwortungsgefühl. Naiv, darauf zu hoffen? Vielleicht. Aber die Freiheit hat eine Chance verdient: Die Wirtschafts- und Finanzelite soll zeigen, dass sie in der Lage ist, das Ungleichheits- und folglich auch das Unsicherheitsempfinden in Eigenregie abzuschwächen.
Es wäre jedenfalls der sinnvollere und effektivere Weg als staatliche Krücken à la Präventiv-DNA-Datenbank für Risiko-Asylsuchende. Man kann davon ausgehen, dass der Kreis der Archivierten bald ausgeweitet werden müsste: auf alle, die ganz unten sind, die Ungleichheit also besonders drastisch erleben und sich folglich zur Selbsthilfe provoziert fühlen könnten.
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