Gesichtserkennung Clearview: Der Albtraum für die Privatsphäre
Eine Datenbank mit Milliarden Gesichtsfotos hilft der US-Polizei beim Ermitteln. Wie funktioniert das? Wäre das in der Schweiz legal? Können sich Nutzer wehren?

Die Schriftsteller George Orwell und Aldous Huxley sind vor mehr als einem halben Jahrhundert gestorben. Wer am vergangenen Sonntag die «New York Times» (NYT) aufschlug, konnte einen anderen Eindruck bekommen. «Gesichtsscan-App bringt das Ende der Privatsphäre näher» stand dort auf der Titelseite. Was folgte, erinnerte an eine Mischung aus «1984» und «Schöne neue Welt».
Die Zeitung druckte aber keine dystopische Science-Fiction-Literatur, sondern eine Recherche der Journalistin Kashmir Hill. Sie deckt auf, wie das bis dato unbekannte US-Unternehmen Clearview eine gewaltige Datenbank mit Fotos von menschlichen Gesichtern aufgebaut hat. Der Bericht hat politische Reaktionen ausgelöst, wirft juristische Fragen auf und zeigt, warum Datenschützer seit Jahren vor automatisierter Gesichtserkennung warnen. Die wichtigsten Antworten im Überblick:
Wie arbeitet Clearview?Glaubt man der Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens, hat Clearview mehr als drei Milliarden Fotos aus öffentlich zugänglichen Quellen abgesaugt. Das funktioniert mithilfe sogenannter Scraper – Software, die automatisch Bilder herunterlädt, die nicht auf «privat» gestellt werden. Die Scraper zapfen Plattformen wie Facebook, Instagram, Youtube und Twitter an, bedienen sich aber auch an Nachrichtenportalen oder Webseiten von Arbeitgebern, die Fotos ihrer Angestellten veröffentlichen.
Wie funktioniert die Gesichtserkennung? Die technischen Details der Software sind unklar. Gründer Hoan Ton-That sagt, Clearview nutze ein übliches biometrisches Verfahren. Demnach analysiert ein künstliches neuronales Netz, dessen Aufbau den Schichten des menschlichen Gehirns ähnelt, die vorliegenden Fotos. Es übersetzt die optischen Merkmale des Gesichts in Vektorgrafiken und erstellt ein mathematisches Modell, das von Maschinen gelesen werden kann. Mithilfe dieses Rasters gleicht die Software neue Bilder mit der Datenbank ab. Wer das System mit dem Foto eines unbekannten Gesichts füttert, dem spuckt es ähnliche Bilder aus, und man erfährt, an welchen Stellen im Netz diese Funde aufgetaucht sind.
Ist Clearview mehr als ein Hype? 2018 versetzte eine kleine Firma die Welt in grosse Aufregung: Cambridge Analytica hatte eine offene Schnittstelle von Facebook missbraucht, massenhaft Nutzerdaten abgegriffen und die Informationen genutzt, um personalisierte Anzeigen zu schalten. Schnell machten Schauergeschichten die Runde, angeblich habe Trump seinen Wahlsieg der perfiden Manipulation von Cambridge Analytica zu verdanken.
Es gibt keine öffentliche Kundenliste, niemand weiss, welche Behörden die Software verwenden.
Auf den ersten Blick erinnert Clearview an Cambridge Analytica: Erneut offenbart eine Recherche das fragwürdige Vorgehen eines Unternehmens, das bislang wenig öffentliches Interesse erregt hat. Die Technik dahinter versteht nur ein kleiner Kreis von Menschen. Doch es gibt Unterschiede: Viele der Behauptungen über Cambridge Analytica beruhen auf dem PR-Material der Firma selbst und sind bis heute nicht belegt.
Dagegen kommen in der Recherche über Clearview mehrere Polizeiermittler zu Wort, die bestätigen, wie effektiv die Gesichtserkennung der Firma funktioniert. Das erfolgreichste Marketinginstrument sind demnach kostenlose Testlizenzen. Nach 30 Tagen seien viele Polizeibehörden so überzeugt, dass sie die Software kauften. Clearview scheint also zumindest besser zu funktionieren als alle Gesichtserkennungssysteme, die US-Behörden bislang einsetzen.
Warum ist so eine Datenbank bedenklich?Die Polizei nutzt Clearview, um Verdächtige zu finden und Verbrechen aufzuklären. Was sinnvoll klingt, birgt Missbrauchspotenzial. Es gibt keine öffentliche Kundenliste, niemand weiss, welche Behörden die Software verwenden. Beamte könnten damit Frauen nachspionieren, Regierungen könnten Dissidenten identifizieren. Wenn Ermittler Fotos hochladen, füttern sie die Datenbank von Clearview – ein System, das nie unabhängig überprüft worden ist. Datenschutz und Absicherung gegen Hacker dürften nicht ganz oben auf der Prioritätenliste gestanden haben.
Clearview selbst scheint wenig Skrupel bei der Auswahl seiner Kunden zu haben. Der NYT zufolge bot das Unternehmen seine Dienste unter anderem dem Republikaner Paul Nehlen an, der offen antisemitische und rassistische Ansichten vertritt. Er könne eine «unkonventionelle Datenbank» nutzen, um Nachforschungen über politische Gegner anzustellen, pries Clearview die Software an.
Ist Clearview ein Einzelfall?Das Ausmass der Datenbank von Clearview übersteigt bislang bekannte Sammlungen. Es ist aber gut möglich, dass andere Unternehmen oder Staaten längst vergleichbare Systeme aufgebaut haben. Weltweit ist Gesichtserkennung auf dem Vormarsch. Russland identifiziert damit Demonstranten. Pornhub erkennt Darstellerinnen in hochgeladenen Videos. Frankreich will allen Bürgern eine «digitale Identität» geben, die an ihr Gesicht geknüpft ist. Und China lässt nicht nur Uiguren, sondern einen Grossteil der Bevölkerung mit Kameras überwachen.
«Man muss sich fragen, ob die Polizei solche Daten nicht einsetzen dürfen sollte.»
Dürfen Schweizer Behörden Clearview einsetzen? Er rate davon ab, sagte der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger gegenüber SRF. Er werde hellhörig, «wenn Private praktisch das ganze Internet durchrechnen, eine Vielzahl von biometrischen Daten erheben und zu einer privaten Datenbank machen». Sollte es darunter Fotos von Schweizerinnen und Schweizern haben, gehe er davon aus, dass deren Persönlichkeitsrechte verletzt seien. «Es ist problematisch, weil natürlich ein grosser Teil dieser Gesichter aus sozialen Plattformen stammt», so Lobsiger weiter. Plattformen wie Facebook zum Beispiel, die klare Nutzungsbedingungen kennen.
Was unternimmt der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte? Adrian Lobsiger kündigte am Mittwoch an, stellvertretend für die betroffenen Personen in der Schweiz bei Clearview ein Auskunfts- und Löschgesuch zu stellen. Der Datenschutzbeauftragte wird die Öffentlichkeit über die Behandlung seines Gesuches durch das Unternehmen informieren.
Braucht es hierzulande Gesetzesanpassungen, um die Privatsphäre besser zu schützen? Ein Versuch sei jeweils ein neues Datenschutzrecht, sagt Rechtsanwalt Martin Steiger, Experte für Recht im digitalen Raum. Die Europäische Union habe seit etwa anderthalb Jahren die Datenschutzgrundverordnung. «Die Schweiz revidiert ihr Gesetz. Das sind Versuche, die in diese Richtung gehen. Sie haben aber mit starkem Widerstand zu kämpfen, und sie funktionieren auch schlecht. Und man muss sich fragen, ob die Polizei solche Daten nicht einsetzen dürfen sollte», so Steiger gegenüber SRF.
Wie können sich Nutzer wehren?Das Vorgehen von Clearview zeigt, dass Datenschutz schwierig wird, wenn er nur in der individuellen Verantwortung einzelner Nutzer liegt. Sie erfahren nicht, dass ihre Fotos und Daten abgesaugt werden. Sie können nicht widersprechen, während die Technik tief in ihre Privatsphäre eindringt. Die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass Daten analysiert werden, besteht darin, keine Daten zu veröffentlichen. Alles, was frei zugänglich im Netz steht, wird früher oder später ausgewertet – oder ist schon längst von Unternehmen wie Clearview erfasst.
Clearview verstösst mit dem Scraping zwar eindeutig gegen die Nutzungsbedingungen von Plattformen wie Facebook und Twitter. Diese Unternehmen können aber offensichtlich auch nicht verhindern, dass sich Datenstaubsauger die öffentlich zugänglichen Informationen einverleiben, solange es der Gesetzgeber nicht verbietet und die Regeln auch konsequent durchsetzt.
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