Geisterstunde des Parlamentarismus
Was hat die AHV mit den Steuern zu tun? Nichts. So zerstören die Politiker unsere direkte Demokratie.

Ohne Frage gehört Roberto Zanetti, Ständerat und Sozialdemokrat aus Solothurn, zu jenen heiteren Politikern, die einen todlangweiligen Morgen im Parlament mit einem gewissen Humor, mit einem Witz an der richtigen Stelle oder einer lockeren Bemerkung erträglicher machen – und ich meine das durchaus nicht ironisch. Dass Zanetti aber so viel Humor besitzt, war auch mir nicht bekannt. Als der Ständerat vor gut zehn Tagen eine Art kleinen Staatsstreich vollzog und zwei eindeutig sachfremde Themen (AHV und Steuervorlage) zusammenband, damit der Stimmbürger nicht frei abstimmen kann, sondern gezwungen ist, zu schlucken, was das Parlament ihm vorsetzt, sprach Zanetti von einer «Sternstunde des Parlamentarismus» – und selbst er dürfte das nicht ironisch gemeint haben. Auch wenn es sehr lustig klang.
Oder tollkühn. Tatsächlich ist das Wort Staatsstreich keineswegs überzogen. Wenn sich Legislative und Exekutive über die Verfassung und die politischen Sitten hinwegsetzen, dann scheint keine Wertung zu drastisch dafür. Denn es gehört zu den heiligen Prinzipien unseres Landes, dass der Souverän, das Volk, am Ende alles entscheidet, sofern es das wünscht. Wenn der Stimmbürger allerdings seinen Willen an einer Volksabstimmung nicht ausdrücken kann, weil er zu zwei völlig unterschiedlichen Themen nur mit Ja oder Nein antworten kann, dann wird ihm dieses Recht genommen. Im Grunde bewegen wir uns damit in Richtung eines plebiszitären Systems, wo die Politiker den Bürger pro forma befragen, um dann doch zu tun, was sie ohnehin vorhatten. Sie gefallen sich darin, ein demokratisches Spektakel aufzuführen, wo im Hintergrund ein autoritärer Geist die Fäden zieht. Wer die Steuervorlage unterstützt, wie zum Beispiel ich, hingegen in der AHV keinesfalls noch mehr Geld verbrennen möchte, ohne dass man strukturelle Reformen beschliesst, um die Renten auf lange Sicht zu sichern – eine Position, die wohl mehrheitsfähig ist –, dem wird somit das Stimmrecht faktisch entzogen. Wir werden genötigt, Dingen zuzustimmen, die wir nicht wollen, damit wir etwas anderes erhalten.
Sternstunde des Parlamentarismus? Der Begriff ist verräterisch: Wir sind keine repräsentative, parlamentarische Demokratie, sondern eine direkte, sodass schon diese Terminologie in unserem politischen Sprachgebrauch importiert klingt. Es scheppert und knarrt. Vom Parlament erwarten wir keine Sternstunden, sondern dass es die Verfassung einhält. Nun haben sich die Juristen des Bundesamts für Justiz zwar bemüht, diesen Staatsstreich juristisch als «vertretbar» zu begründen, aber es gelang ihnen so schlecht, dass selbst die Befürworter des Deals sich nicht richtig trauten, sich auf das Gutachten zu stützen. Zu offensichtlich schrieben die braven Beamten den zum Äussersten entschlossenen Politikern nach dem Mund. Wer diesem einst renommierten Bundesamt für Justiz je eine gewisse fachliche Unbestechlichkeit attestiert hatte, was man früher durchaus zu Recht tat, der wird das in Zukunft nicht mehr tun. So ruinieren sich Institutionen selber. Bezahlte Juristen beugen sich der Macht.
Entmachtung des Souveräns
So weit sich die Parteien und ihre Exponenten im Nationalrat zu diesem Geschäft bisher verlauten lassen haben, können wir davon ausgehen, dass auch die Grosse Kammer dieser Vorlage aus dem Ständerat zustimmen wird. Zwar sind einige Retuschen denkbar, aber unverändert bleibt die Lust an der Entmachtung des Souveräns. Dass die beiden sachfremden Themen, AHV-Sanierung und Steuerreform, dem Volk getrennt vorgelegt werden, wie sich das gehörte, scheint zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Die Bürgerlichen befinden sich im Zustand anschwellender Panik. Sie haben sich dermassen eingeredet, man könne dem Volk Steuersenkungen für Unternehmen nicht mehr plausibel machen, dass sie wie die lausigen Politiker in einer korrupten Demokratie annehmen, man müsste dem begriffsstutzigen Volk «soziale Geschenke» gewähren, damit es solche anscheinend verheerenden, unsozialen, menschenfeindlichen Massnahmen wie tiefere Steuern gutheisst. Dass man offenbar nicht mehr an das eigene Parteiprogramm glaubt und sich auch nicht zutraut, es den Bürgern zu erklären: Das ist eine Bankrotterklärung bürgerlicher Politik.
Auf der schiefen Bahn
Das ist das eine, was deprimiert – das andere ist noch bestürzender. Wenn dieses Beispiel nämlich Schule macht, und vieles deutet darauf hin, lassen wir es zu, dass sich unser bewährtes politisches System vor unseren Augen verwandelt, ohne dass wir dies je beschlossen hätten. Die möglichen Folgen sind weitreichend. Bisher wusste das Parlament, dass jedes Gesetz, das es verabschiedet, notfalls vom Volk verworfen werden kann. 50 000 Unterschriften von unzufriedenen Bürgern genügen, um jahrelange Anstrengungen der Politiker infrage zu stellen. Diese Tatsache prägt unseren gesamten Gesetzgebungsprozess. Oft sind sich die Bürger gar nicht bewusst, warum die direkte Demokratie ein derart kluges und effizientes System ist: Was auf den ersten (ausländischen) Blick chaotisch und unberechenbar wirkt – ein launischer Souverän hält einmal den Daumen hoch, dann wieder nach unten –, ist bloss die Oberfläche einer genialen Realitätsprüfungsmaschinerie. Gewiss, jede Abstimmung ist für die Politiker ein Wagnis und daher eine Zumutung, die ihnen guttut, weil sie auf diese Art und Weise regelmässig erfahren, wer ihr wahrer Chef ist: das Volk, der Souverän. Doch weitaus entscheidender als die realen Abstimmungen sind die vielen, vielen Abstimmungen, die nie stattfinden – weil die Politiker alles dafür getan haben, dass sie dieses Risiko erst gar nicht einzugehen hatten.
Das Volk im Nacken, bemühen sich Regierung und Parlament in der Schweiz deshalb immer, möglichst tragfähige, breite Kompromisse zu bilden, damit ja keine Gruppe je auf die Idee kommt, ein Referendum zu ergreifen. Nichts fürchten die Politiker mehr als das Volk, das etwas zurückweisen könnte, was man so sorgfältig und in so zeitraubenden Prozessen ausgehandelt hat. Das Ergebnis dieser Vorsicht, ja Angst der Politiker sind meist gute, pragmatische, vor allem praxistaugliche Gesetze, weil sehr viele Betroffene schon im Vorfeld einbezogen wurden, um jeden Widerstand zu ersticken. In der Schweiz war es bisher nur schwer möglich, ein Gesetz zu beschliessen, das etwa die Unternehmer ablehnten oder die Gewerkschaften für schädlich hielten. Weil die Unternehmer oder die Gewerkschafter meistens besser Bescheid wissen, was in der Praxis sich bewährt, ist ihr grosser Einfluss auf die Gesetzgebung nur von Gutem: Es entstehen Regeln, die etwas taugen, weil die Praktiker sie schreiben anstatt die Theoretiker. Was für die Wirtschaftspolitik gilt, wo die Unternehmer oder die Gewerkschaften stets ein Wort mitzureden haben, lässt sich in sämtlichen Bereichen der Politik feststellen. Die direkte Demokratie nötigt die Politiker und die Beamten, auf jene zu hören, denen sie versuchen, Gesetze aufzudrängen.
Dieses System funktioniert indessen nur, solange sich die Politiker der sogenannten Einheit der Materie verpflichtet fühlen, also dem Verbot, sachfremde Dinge in einer Vorlage zusammenzufügen. Gemäss Verfassung ist dieser Grundsatz etwa für Volksinitiativen und somit für Verfassungsänderungen vorgeschrieben, ob er sich auch auf Gesetze wie eben diese Steuerreform bezieht, ist unter Juristen umstritten – die guten politischen Sitten bedeuteten bisher jedoch, dass sowohl Parlament als auch Bundesrat sich diesem Prinzip unterstellten.
Faule Kompromisse statt mehrheitsfähiges Gesetz
Dieses Gebot der Einheit der Materie nötigt die Politiker, innerhalb einer Reform Kompromisse zu schmieden – innerhalb der AHV, innerhalb der Steuergesetzgebung oder innerhalb eines Projekts wie der Energiewende. Der eine oder andere Kuhhandel war daher schon immer vertrauter Bestandteil unserer Politik. Wenn die Politiker aber solche Kompromisse auf völlig verschiedene Felder ausweiten, wenn also die Verkehrspolitik etwa plötzlich mit der Kinderkrippenpolitik verknüpft wird, um so eine vermeintliche Mehrheit im Parlament oder im Volk zu erhalten, dann wird diese alte und brillante Kompromissfindungsmaschinerie der direkten Demokratie zerstört. Statt echte Kompromissen, die ein Gesetz mehrheitsfähig und praxistauglich machen, erhalten wir faule Kompromisse. Um dies mit einem krassen Beispiel zu illustrieren: Angenommen die Rechte möchte die Autobahnen ausbauen, und die Linke hätte gerne mehr Kinderkrippen. Wenn die Einheit der Materie nichts mehr gilt, warum sollten wir künftig nicht über eine Autobahnkinderkrippenreform abstimmen, wo eine Milliarde Franken für neue Strassen bereitgestellt wird und 200 Millionen für die Kinder?
Noch würde sich der Ständerat, ja nicht einmal der gut gelaunte Roberto Zanetti getrauen, ein solches Monstrum der Gesetzgebung dem Volk zuzumuten. Doch einmal ist nicht keinmal. Der Ständerat hat einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen.
Es war eine Geisterstunde des Parlamentarismus.
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