Wochenduell: Sport und CoronaGehören Zuschauer ins Stadion?
Ein volles Wembley während des EM-Finals und Geisterspiele in Tokio bei Olympia: Während der Pandemie gehen die Meinungen auseinander, was im Sport wichtig ist und was nicht.

Ja: Das Leben muss weitergehen, ausserhalb und auch im Stadion – trotz Coronavirus
Die kürzlich zu Ende gespielte Europameisterschaft hat diese Frage eigentlich schon beantwortet: Sport zu schauen, macht nur mit Zuschauern im Stadion so richtig Spass! Man hatte fast schon vergessen, wie sich das anfühlt, sich an leere Arenen gewöhnt, wo im TV statt Fangesang Vogelgezwitscher zu hören war.
Klar, die aktuelle Corona-Situation ist noch immer heikel, die Delta-Variante hinterliess auch bei der Euro ihre Spuren. Und natürlich ist es fraglich, welchen Stellenwert der Sport und Entertainment einnimmt, wenn sich die ganze Welt in Ungewissheit ob einer nie da gewesenen Pandemie befindet.
Aber gerade die EM hat gezeigt, welch grossen Wert Zuschauer und Emotionen bei Sportanlässen haben. Fans an sportlichen Anlässen hat es immer gegeben, und es ist etwas, das sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite wollen. Die Angebotsperspektive stellen Sportvereine und deren Athleten dar. Sportler aus verschiedenen Lagern äusserten sich zuhauf, dass sie die Stimmung in den Stadien und die Unterstützung von den Rängen vermissen würden. Der FC Bayern München etwa veröffentlichte im März dieses Jahres ein Video, in dem die Spieler Leroy Sané, Joshua Kimmich und Alphonso Davies in der leeren Allianz-Arena stehen und den Text von «Ain’t No Sunshine» sprechen. Das kam ein wenig dramatisch rüber, klar. Aber besonders im Fussball beruht die Fankultur zum Grossteil auf sozialer Interaktion, die hauptsächlich im Stadion stattfindet.
Die Vereine sind zudem wirtschaftlich von Ticketerlösen abhängig. Es ist kein Geheimnis, dass viele Vereine finanziell unter den ausbleibenden Ticketeinnahmen während der Pandemie erheblich gelitten haben. Dies ist besonders wichtig im Hinblick darauf, was nach der EM folgt, wenn der Fussball zurückkehrt in die nationalen Arenen. Die Euro diente quasi als Pilotprojekt für die Rückkehr der Zuschauer in die Stadien, und dieses ist verhältnismässig geglückt.
Die Organisatoren der Olympischen Spiele haben diesen Schritt nicht gewagt. Der Entscheid, die Spiele ohne Zuschauer stattfinden zu lassen, muss besonders für Athleten furchtbar gewesen sein, die in einer Randsportart aktiv sind. Die Chance, an den Olympischen Spielen vor einer derart grossen Kulisse zu performen, bietet sich für viele von ihnen nur einmal in ihrer Laufbahn. So werden die Sommerspiele also zum TV-Event. Ein Fakt, der nicht nur für die Teilnehmer schwer zu verkraften ist, sondern auch für die Zuschauer selbst, die Nachfrage-Perspektive. Die Möglichkeit für den Rezipienten, seine Idole live vor Ort in Aktion zu erleben, darf man ihm nicht für alle Zeit nehmen. Irgendwann muss das normale Leben weitergehen, im Stadion und auch ausserhalb – trotz Coronavirus. Benjamin Schmidt
Nein: Instabile Infektionslage, unlauterer Wettbewerb, fehlende Fairness – Zuschauer im Stadion sind derzeit fehl am Platz
67’173 Menschen sahen vergangenen Sonntag im Londoner Wembley-Stadion den EM-Final zwischen England und Italien. Fragwürdig in einer Zeit, in der im Land momentan pro Tag durchschnittlich über 30’000 Corona-Neuinfektionen gemeldet werden. Ein solches Zuschaueraufkommen ist während der Pandemie weder sinnvoll noch nötig. Die Organisatoren der Olympischen Sommerspiele in Tokio sahen das zumindest so und entschieden letzte Woche, dass ihre Veranstaltung ohne Publikum auskommt. Sie sind der Meinung, dass das die derzeitige Infektionslage mit steigenden Zahlen in der Stadt nicht zulässt. Die Politik sitzt immer noch am längeren Hebel. Eine pandemiekonforme Durchführung, die sowohl den Besucher als auch den Sportler vor einer Infektion bewahrt, geht vor Stimmungsmache und Fankultur.
Wie sich die derzeitige Fankultur präsentiert, zeigte der EM-Final: Der italienische Nationaltorhüter Donnarumma hatte eben gegen den Engländer Saka den entscheidenden Elfmeter pariert, da stellte sich im Stadion eine gespenstige Stille ein. Der Grund dafür: Aufgrund der verschärften Einreisebestimmungen waren kaum italienische Anhänger zugegen, die ihr Team ausgelassen hätten feiern können. Da die Engländer sechs ihrer sieben Spiele im eigenen Stadion austrugen, kam ihnen jedes Mal ein unlauterer Wettbewerbsvorteil zugute. Das waren Heimpartien, in denen Gästefans keine Rolle spielten.
Dasselbe wäre ohne die kürzliche Planänderung auch an Olympia passiert. Die Organisatoren hatten ursprünglich beschlossen, dass nur Publikum aus dem Inland die Spiele besuchen darf. Dies hätte den japanischen Sportlern einen Vorteil verschafft. Eine solche Wettbewerbsverzerrung ist aber nicht im Sinn des Sportsgeistes. Lässt man kein Publikum zu, so sind die äusseren und inneren Rahmenbedingungen in dieser ausserordentlichen Lage für alle Einzelsportler und Mannschaften gleich und fair.
Auch wenn Besucher an solchen Grossanlässen aus den genannten Gründen derzeit nicht sinnvoll sind und es sie für eine erfolgreiche Durchführung nicht unbedingt braucht, so ist ihre essenzielle Bedeutung für den Gesamtkontext des Sports unbestreitbar. Sobald es die globale Infektionslage zulässt und ein sicherer und fairer Wettbewerb garantiert werden kann, dann sind Zuschauer vor Ort in Zukunft wieder willkommene Gäste. Daniel Schmidt
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und einem Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Holt sich Roger Federer nun sogar den Titel?Werden die Schweizer nun Europameister?War die Europameisterschaft bisher ein Fussballfest?Ist Novak Djokovic der beste Spieler der Geschichte?Erlebt der Radsport einen Boom?
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