Gefangen in der Tradition
Gestern wurde Japans 126. Kaiser gekrönt – Naruhito, der Enkel Hirohitos und Sohn Akihitos.

Yoshie Nishikawa (82) ist ehrenamtliche Sozialhelferin in Tokio, viel beschäftigt, gut vernetzt, eine zierliche Dame. Sie kann sich überlegen, ob sie demnächst rausschaut zum Kaiser oder es bleiben lässt. Naruhito wird am Dienstag gekrönt, der Enkel Hirohitos, der Sohn Akihitos, er ist Japans 126. Kaiser.
Tokio soll feiern, sobald die Folgen des schlimmen Taifuns vor zehn Tagen verarbeitet sind, und die Parade vom Kaiserpalast im Stadtteil Chiyoda zu der kaiserlichen Residenz in Akasaka wird dann auch an Yoshie Nishikawas Wohnung vorbeikommen. Warum also nicht mal schauen, wenn sie Zeit hat? «Wie beim Marathon. Anfeuern.» Aber richtig berührt sie dieses Ereignis nicht. «Mit meinem Leben hat der Kaiser nichts zu tun.»
Manche sagen, es sei riskant, zu sagen, was sie sagt, deshalb ist ihr Name geändert. Dabei haben ihre Antworten zu der Frage, was den Japanerinnen und Japanern ihr Kaiser bedeutet, mit Kritik wenig zu tun. Sie erzählen eher von einem Verhältnis, das sich nach einem furchteinflössenden Start allmählich so verbessert hat, dass Yoshie Nishikawa heute mit einer gewissen Sympathie von dem Mann spricht, der dort oben auf dem Chrysanthementhron sitzt. Aber das kann schon reichen, um von konservativen Kreisen als Majestätsbeleidigung aufgefasst zu werden.
Auf den ersten Blick scheint die kaiserliche Herrschaft voller Kraft und Ausstrahlung zu sein. Staatsleute und Adelige aus mehr als 190 Ländern kamen gestern zur Inthronisierung. Die Parade hat die Regierung wegen des schweren Taifuns auf den 10. November verlegt – aber auch an diesem späteren Termin werden viele Menschen die Strecke säumen und jubeln, wenn Kaiser Naruhito und seine Frau, Kaiserin Masako, in der eigens dafür angefertigten Cabriolimousine eine halbe Stunde lang durch die Stadt rollen.
Staatssymbol und Priester
Zu den Aufgaben des Tennos gehört es, Staatsgäste zu empfangen und Staaten im Namen Japans zu besuchen. Die japanische Verfassung legt fest, dass der Kaiser «das Symbol des Staates und der Einheit des Volkes» ist. Ausserdem ist er der höchste Priester der Staatsreligion Shinto.
Aber finden die Japanerinnen und Japaner ihn noch wichtig? Naruhitos Vater Akihito hat seine Rolle jedenfalls bis an die Grenzen des Möglichen ausreizen müssen, damit der Kaiser in der freiheitlichen Nach-Nachkriegsgesellschaft etwas mehr sein kann als ein stummer Patron Nippons.
Yoshie Nishikawa weiss noch, wann sie und alle anderen Menschen in Japan zum ersten Mal die Stimme des Kaisers hörten. Es war am 15. August 1945. Japan war ein Trümmerfeld. Sie kniete mit der Familie vor dem Radio, den Blick gesenkt, die Hände in den Schoss gelegt, und verstand erst mal gar nichts. Knistern. Eine helle, entfernte Männerstimme in seltsamem Singsang. Worte wie schwere Steine.
Der Kaiser ist ein Japaner im Dienst, fleissig, opferbereit. Er soll Disziplin vorleben, kein Bedenkenträger oder Ideengeber sein.
Die Erwachsenen erklärten ihr, was das bedeutete. Der Kaiser habe gesagt, der Krieg sei zu Ende. Später sah sie, dass dieser Hirohito, den sie als Kind nicht hatte ansehen dürfen, seine Unnahbarkeit ablegte. Die Amerikaner wollten keinen gottgleichen Kaiser, der möglichst weit weg von den Menschen sein sollte, sie wollten eine harmlose Identifikationsfigur für den Wiederaufbau, und so brachte sich der Kaiser ein, bereiste das Land, spendete seinen Untertanen Trost und Zuspruch. «Das war ein Wendepunkt für Japan», sagt Yoshie Nishikawa.
Und was war das erst für eine Veränderung, als Hirohito 1989 nach 62-jähriger Regentschaft starb und Akihito sein Erbe antrat. Ein schmaler Mann mit natürlichem Lächeln und ohne Kriegsvergangenheit stand plötzlich für den japanischen Staat. Der erste Kaiser, der zumindest kurz studiert hatte, der eine Bürgerliche geheiratet hatte, nämlich seine Tennisbekanntschaft Michiko Shoda, Tochter eines reichen Unternehmers. Und der sich dazu bekannt hatte, das Amt näher ans Volk heranzutragen. Yoshie Nishikawa sagt: «Der Tenno ist freundlicher geworden.»
Sie lächelt über die Allüren, die sich das kaiserliche Japan heutzutage noch leistet. Sie zieht ihren Taschenkalender heraus und zeigt die Tabelle der japanischen Zeitrechnung. Die Regentschaft jedes einzelnen Kaisers bekommt einen Namen, den die Regierung von einer Gruppe aus handverlesenen Experten ermitteln lässt. Die Namen sind meistens ein seltenes Wort aus der frühjapanischen Literatur, das kaum in eine andere Sprache zu übersetzen ist, weil es nicht nur für einen Begriff steht, sondern für eine ganze Atmosphäre, für einen poetischen Zustand. Hirohitos Ära hiess Showa, was mit «Erleuchteter Frieden» übersetzt wird und deshalb mit Blick auf die kriegerische erste Showa-Phase ziemlich unpassend wirkt. Akihitos Ära hiess Heisei, «Frieden überall», die von Naruhito trägt den Namen Reiwa, «Wundervolle Harmonie». Das Jahr 2019 ist also bis zum 30. April, dem Tag von Akihitos Abdankung, das Jahr Heisei 31. Und vom 1. Mai an ist es das Jahr Reiwa 1.
Der Revolutionär auf dem Thron
Manche nennen Akihito einen Revolutionär. Er zeigte Reue für Japans Kriegsschuld, reiste als erster japanischer Kaiser nach China, besuchte Opfer von Naturkatastrophen. Normalmenschen waren gerührt, als Akihito und Michiko, selbst schon vom Alter gebeugt, 2011 nach dem grossen Erdbeben und dem Tsunami in Ostjapan durch die betroffenen Städte reisten, sich zu den Menschen knieten, ihnen ins Gesicht schauten und Kraft wünschten. Für stramme Nationalisten war das zu viel Nähe – und sie waren erst recht empört, als Akihito im August 2016 seine denkwürdige Fernsehansprache hielt.
Akihito war da 82 Jahre alt, er hatte eine Prostata- und eine Bypass-Operation hinter sich gebracht. Er las mit fester Stimme seine persönliche Meinung vom Blatt. Er sprach von der Gesundheit eines alten Mannes, von schwindenden Kräften, er sagte: «Ich habe Sorge, dass es für mich schwierig werden könnte, meine Pflichten als das Symbol des Staates zu tragen, wie ich das bis jetzt getan habe.» Das war die indirekte Bitte, abdanken zu dürfen, obwohl er laut Verfassung bis zum Tod Kaiser sein muss. Ein Tabubruch. Eine Gesetzes-debatte folgte. Die Regierung lenkte ein. Als erster Kaiser nach 202 Jahren durfte Akihito am 30. April 2019 abdanken.
Die Bezeichnung «Kaiser» wirkt machtvoll, aber in Wahrheit hat er keine Macht. Dem japanischen Kaiser fehlen sogar grundlegende Rechte, die man etwa nach der europäischen Verfassung niemandem verwehren dürfte. Er darf seine Meinung nicht sagen, nicht demonstrieren, nicht arbeiten, wie er will, nach konservativer Auslegung der Verfassung darf er nicht einmal wählen. Eigentlich hat er nur Pflichten, die sich einerseits aus einem umfassenden System aus Shinto-Zeremonien herleiten, andererseits aus dem Wunsch des Staates, einen sichtbaren Vertreter zu haben.
Der Kaiser muss beten, das Reisfeld des Kaiserpalastes bestellen und darf Amtspersonen wie den Premierminister ernennen. Der Kaiser ist ein Japaner im Dienst, fleissig, opferbereit. Er soll Disziplin vorleben, kein Ideengeber oder Bedenkenträger sein, der Debatten anstösst und Unruhe stiftet. Aber was wird aus einem Amt, das keine Stimme hat?
Wer es ernst meint mit dem Kaiserhaus, ist gespannt, ob Naruhito (59) auch ein Erneuerer sein kann. Er hat längst gesagt, dass er dem Pfad seines Vaters Akihito folgen wolle, in selbstkritischem Gedenken des Krieges, nah an den Menschen. Er ist ein zierlicher Mann wie sein Vater. Sein Lächeln ist etwas feiner, und in seinem Blick liegt eine Wachheit, die ihm nationalistische Hardliner wahrscheinlich am liebsten verbieten würden. Er ist der erste Kaiser, der im Ausland studiert hat, in Oxford, Geschichte. Er spielt Viola und wandert gern. Und er kennt die Härten des kaiserlichen Familienlebens. Die Diplomatentochter Masako Owada war nicht die Wahl des Hofamtes als Braut des Kronprinzen. Naruhito setzte sich durch, doch dann geriet das Paar unter Druck, weil das Kaiserhaus einen männlichen Thronfolger brauchte.
2001 kam ihre Tochter Aiko auf die Welt, aber eine Kaiserin ist für die Mehrheit der politischen Elite nicht vorstellbar. Der Druck machte Masako krank. «Stressinduzierte Anpassungsstörung» lautete die vielfach verbreitete Diagnose. Naruhito stellte sich vor sie. Er kritisierte sogar öffentlich das Hofamt, mit seinen Regeln und Verboten Masakos Persönlichkeit eingeschränkt zu haben. 2006 entspannte sich die Lage um den Thronfolger, weil Prinz Hisahito geboren wurde, der Sohn von Naruhitos jüngerem Bruder Akishino und dessen Frau, Prinzessin Kiko. Aber gerade die Frauenfrage zeigt dem weltgewandten Naruhito, wie beharrlich Japans politische Elite von einem frischeren Gesellschaftsbild zu überzeugen ist.
Naruhito hat Masako gesagt, dass sie als seine Frau das tun werde, was sie mit ihrem Studium in Harvard und Oxford erreichen wollte: den diplomatischen Dienst. Kaiserin Masako spricht fliessend Englisch und Französisch. Als US-Präsident Donald Trump im Mai auf Einladung von Abe als erster Staatsgast der Reiwa-Ära auf Naruhito traf, fiel das besonders auf. Trump brachte eine 1938er-Allison-Viola aus Charleston als Geschenk mit. Naruhito betrachtete das kostbare Instrument. Und Masako sagte: «Majestät, wie wäre es, wenn Sie heute Abend darauf spielen?» Diese Schlagfertigkeit. Diese Augenhöhe. Sonst standen Kaiserinnen immer einen Schritt hinter dem Tenno. Masako könnte die neue Leitfigur für Frauenrechte im männerdominierten Japan werden.
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