Geballte Energie
Seine Eltern erkannten ihn nicht wieder. Bisher war ihr Junge ein ruhiges Kind gewesen.
Jetzt raste der 13-Jährige vor Zorn – ohne ersichtlichen Grund. Und er konnte keinen Moment lang still sitzen. Mit einiger Mühe – und höchstbesorgt – brachten sie den stark erregten, aggressiven Teenager in eine Notaufnahme in Neapel. Dort gab der Junge an, er habe leichtes Bauchweh und müsse mehr Wasser lassen als sonst, das Pinkeln fühle sich unangenehm an. Auch verspüre er ein ungewohntes prickelndes Gefühl in den Beinen.
Als die Ärzte ihn untersuchten, fiel ihnen das rasende Herz auf: Mit 147 Schlägen pro Minute jagte der Puls (normal sind 75). Anstelle der für sein Alter üblichen Atemfrequenz von etwa 20 holte der Junge 25-mal pro Minute Luft. Auch sein Blutdruck war leicht erhöht, alles andere aber normal. Der hinzugezogene Psychiater fand nichts, Röntgenbilder und Laborwerte waren in Ordnung. Drogen habe er keine genommen, sagte der Knabe.
Glücklicherweise besserte sich sein Zustand über Nacht, sodass er aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Wenige Tage später meldete er sich zur Nachkontrolle. Diesmal wirkte er lustlos und schläfrig, nichts interessierte ihn mehr. Drei Tage lang war der Teenager nicht zur Schule gegangen. Jetzt schlug sein Herz nur noch 45-mal pro Minute.
Zu verdanken hatte er dies alles zwei Päckchen «Energy»-Kaugummis. Seine Mutter fand die leeren Hüllen in seiner Tasche. Etwa 320 Milligramm Koffein hatte der Schüler binnen vier Stunden über die Kaugummis aufgenommen. Das entspricht vier bis fünf Tassen Espresso. Da der Teenager erst 45 Kilogramm wog und sonst praktisch nie Kaffee oder koffeinhaltige Softdrinks trank, schlugen die «Energy»-Kaugummis voll ein. Der Knabe hatte eine Koffeinvergiftung.
Wie jeder Kaffeetrinker weiss, regt Koffein an. Es macht munter und verbessert die Konzentration. An den Nervenzellen im Gehirn besetzt es sogenannte Adenosin-Andockstellen. Adenosin hemmt die Freisetzung einer Reihe von Botenstoffen und senkt so die Nervenaktivität. Werden die Adenosinrezeptoren durch Koffein blockiert, erhöht sich die Konzentration an Botenstoffen, und die Erregung steigt. (Damit dies nicht so bleibt, steuert der Körper mit der Zeit dagegen: Wer regelmässig Kaffee trinkt, hat deshalb mehr Adenosinrezeptoren auf den Hirnzellen.)
Ausserdem erweitert Koffein die Bronchien, es steigert Herz- und Nierenleistung, die Atemfrequenz und den Fettabbau und erhöht – hoch dosiert – die Neigung zu Panikattacken bei entsprechend veranlagten Menschen. In noch höherer Dosierung kann das Psychostimulans Krämpfe auslösen. Weil es auch den Blasenmuskel reizt, der den Harn austreibt, bekam der Junge Probleme beim Wasserlassen. Normalerweise scheidet der Körper innerhalb von drei bis neun Stunden die Hälfte einer Koffeindosis aus; bei Rauchern geht dies etwas schneller, bei Säuglingen dauert es deutlich länger. Dieser 13-jährige Schüler hatte tagelang etwas von seinem Kauvergnügen: Erst putschten sie ihn massiv auf, dann war er tagelang erschöpft.
Quellen:
K. Aktories et al., Allgemeine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie. München, 9. Aufl. 2005 J. L. Donovan et al., »A Primer on Caffeine Pharmacology and Its Drug Interactions in Clinical Psychopharmacology«. Psychopharmacology Bulletin 2001, Bd. 35, S. 30–48 R. Kraemer, M. H. Schöni, Berner Datenbuch der Pädiatrie. Bern 2005 F. Natale et al., »When chewing gum is more than just a bad habit«. The Lancet 2009, Bd. 373, S. 1918 S. N. Njau, »Adult sudden death caused by aspiration of chewing gum«. Forensic Science International 2004, Bd. 139, S. 103–106 A. G. Thompson et al., »Cardiac arrest and chewing gum – an unfortunate combination«. The Medical Journal of Australia 2007, Bd. 187, S. 635 M. Wenke, O. Akça, »Chewing Gum on a Laryngeal Mask Airway«. Anesthesiology 2002, Bd. 97, S. 1647–1648 Stiftung für Patientensicherheit: Quick Alert Nr. 7, 19. 1. 2009 wie viel Coffein enthält eine Tasse Kaffee? Informationsblatt des Kantonalen Laboratoriums Basel-Stadt vom 23. 8. 2001 Pers. Mitteilung Dr. Francesco Natale
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