«Für das, was man tut, gibt es Gründe»
«Kind der Aare», die Autobiografie von Hansjörg Schneider, verrät nicht nur viel über den Schriftsteller, sondern auch immer wieder viel über die Zeit.

«Ein seltsames Schreiben ist dieses autobiografische Schreiben, das ich hier betreibe», heisst es in «Kind der Aare», dem neuen Buch von Hansjörg Schneider, seiner Lebensgeschichte. Er versuche Berichterstattung: «Fakten zu beschreiben, die Realität, wie ich sie damals erlebte.» Er fordere die Erinnerung auf zu sprechen. «Aber Erinnerung wählt aus, verdrängt das eine, rückt das andere in den Vordergrund.» Durch dieses Schreiben, reflektiert der Autor, während er schreibt, erfinde er sein Leben in der Erinnerung neu.
Dieses Innehalten bisweilen, dieser gewollte und sehr bewusst gesetzte Bruch im Erzählfluss, wenn der Autor den Leser plötzlich teilhaben lässt am Entstehungsprozess des Buches, das er nun in Händen hält, zählt zu den Merkmalen von «Kind der Aare». Es verweist darauf, dass hier ein Schriftsteller am Werk ist, einer, der es sich gewohnt ist, seinen Texten ganz gekonnt eine Struktur zu geben.
Nicht einfach A bis Z
Denn wie langweilig wäre es doch, einfach einem fremden Leben von A – Geburt – bis Z – aktueller Stand der Dinge – folgen zu müssen. Will man als Aussenstehender wirklich wissen, wie es im Kindergarten war, damals, oder in der Primarschule, in der Schule und so weiter? Eine Aufzählung all der Lebensstationen in chronologisch korrekter Reihenfolge ist noch viel langweiliger als ein Dia-Abend mit 300 Fotos.
Spannend dagegen wird es, wenn der Autor das, was er erlebt hat, in einen Bezug zur damaligen Zeit zu bringen weiss – und wenn er in der Folge herausarbeitet, wie das, was er erlebt hat, sich in seinem späteren Leben ausgewirkt hat. Und das gelingt Hansjörg Schneider ohne Zweifel. Er, der sich als junger Mann, er war noch keine 30, in psychiatrische Behandlung begab, weil er eine Neurose hatte, wie er schreibt, hat gelernt, in sich hineinzuhören. Er hat eine Traumtherapie gemacht, fast eine Ewigkeit ist das her.
So erweisen sich eben seine Jugendjahre im Städtchen Zofingen als prägend. Vieles damals war dem Heranwachsenden unverständlich, er konnte nicht nachvollziehen, warum die Erwachsenen, vor allem seine Lehrerinnen und Lehrer, so handelten, wie sie handelten, etwa, als er neugierig danach fragte, wieso denn Gottes Sohn am Kreuz überhaupt Schmerzen erleiden konnte – wo er doch Wunder bewirken konnte. Der Mund wurde ihm verboten. «Ich habe geschwiegen, aber begriffen habe ich es nicht», schreibt er. «So war meine Erfahrung von Kindheit an. Anstelle von sachlicher Berichtigung und Erklärung gab es Denkverbote.»
Offenheit, Freiheit, Diskussionen – das gab es auch daheim nicht. Im Gegenteil. Das schwierige Verhältnis zum dominanten, missmutigen, distanzierten und Schläge verteilenden Vater hat Schneiders Leben zweifellos geprägt. Dass seine Mutter, als er 15 Jahre alt war, die Diagnose Multiple Sklerose erhielt und drei Jahre später freiwillig aus dem Leben schied, ebenso. Jene äusserst schwierige Zeit beschreibt er in seinem jüngsten Buch als «Sprachlosigkeit, die unformulierbar war»: «Die Wörter verloren ihren Wert, ihren Sinn. Ich wurde zu einem Menschen ohne Wörter, ich wurde stumm.» Das muss, erkennt man, für einen, dessen Leben später die Wörter sind, verheerend gewesen sein.
An der Uni fremd
Mit dem Beginn des Studiums der Literatur an der Universität Basel 1959 begann sich der Lebensweg des Schriftstellers abzuzeichnen. Denn Hansjörg Schneider war schon bald klar, dass er in den Vorlesungen der Professoren nicht mehr das lernen konnte, was ihm dienlich sein würde. Und es war ihm auch bereits klar, dass er nicht Lehrer sein wollte.
Er, der schon als Jugendlicher angefangen hatte, die Welt zu bereisen, wann immer sich ihm eine Möglichkeit dazu bot, oder auf die Berge zu steigen, um sich einen Überblick zu verschaffen, ging für eine längere Zeit nach Paris, hätte dort auch bleiben und schreiben können, kehrte jedoch nach Basel zurück. Und erlebte wenige Jahre später darauf ebenjene psychische Krise, die schliesslich einen Umbruch darstellte.
Entdeckung des Widerspruchs
Schneider begann, seine Träume aufzuschreiben, manchmal mehrere pro Nacht. Dass darin ein trübes Gewässer wiederholt sich Platz zu schaffen vermochte, ist insofern interessant, weil es im weiteren Sinn zum Titel des Buches «Kind der Aare» passt und zu dessen Anfang, den ersten paar Sätzen dieser Autobiografie, in denen es um diesen Fluss geht. Die Aare. Weiblich. Nicht: der Rhein. Männlich. Auch das streicht Schneider heraus, und schreibt an anderer Stelle: «Ich hatte mächtige Schutzengel. Die Hilfe kam fast immer von Frauen.»
Der Umbruch bestand im Wesentlichen darin, dass aus dem braven Hansjörg, der sich immer an (fast) alle Verbote gehalten hatte, nach und nach einer wurde, dem Verbote weniger Eindruck machten, sondern seinen Widerspruch herausforderten. Seine spätere Frau Astrid – er nennt sie im Buch konsequent nur immer A. – fand ihm ein Haus im Jura, in das er sich eine Zeit lang zurückzog. Er kam zwar gelegentlich nach Basel, in die Stadt, um sich bei der National-Zeitung am Aeschenplatz Schreibaufträge zu sichern. Er begann aber vor allem, eigene Texte zu verfassen, weigerte sich indes, über Schweizer Autoren zu schreiben, weil er damals bereits ahnte, dass er bald selber zu ihnen gehören würde.
Die Jugendjahre nehmen viel Platz ein in «Kind der Aare». Fast zwei Drittel der 326 Seiten. Den Jahren zwischen 30 und 60, die verbunden sind mit dem Durchbruch und der Etablierung als Dramatiker und Schriftsteller – sein Stück «Sennentuntschi» ist dabei von ganz besonderer Bedeutung –, ist das dritte Drittel gewidmet. Was seither geschah, speziell auch der grosse Erfolg mit seiner Figur Kriminalkommissär Peter Hunkeler, handelt Schneider kurz und knapp ganz am Ende von «Kind der Aare» ab. Er ist uneitel, brüstet sich nicht damit, wischt es fast ein bisschen mit der Hand weg.
Lesen, nicht reden
Ist es nur Uneitelkeit oder verrät sich darin auch, dass er seinen anderen Werken mehr Gehalt und Gewicht beimisst? Wobei er auf die Prosa generell kaum eingeht: «Neben meiner Theaterarbeit habe ich regelmässig auch Romane und Tagebücher geschrieben und veröffentlicht. Dazu will ich nichts sagen. Bücher sind zum Lesen da, nicht zum darüber Reden.»
Wir sind anderer Meinung. «Kind der Aare» ist es sehr wohl wert, darüber zu reden, denn es verrät nicht nur viel über den Schriftsteller und Menschen Hansjörg Schneider, sondern auch immer wieder viel über die Zeit.
Weder beschönigt noch idealisiert
Denn die Darstellung seiner erfolgreichen Jahre als Schreibender packt der bald 80-Jährige genauso an wie die Jugendjahre. Will heissen, dass er, soweit man das beurteilen kann, nicht beschönigt oder idealisiert, aber immer beobachtet, was passiert.
Immer wieder rieb er sich eben an den Regeln, die andere aufstellten und deren Sinn und Gültigkeit er oft nicht einfach so akzeptieren wollte. Als Beispiel dafür genannt sei hier der Schriftsteller-Boykott im Rahmen des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft. Hansjörg Schneider war Teil eines spannenden Theaterprojekts; zusammen mit dem jungen, engagierten Theatermacher Lukas Leuenberger. Wegen der Fichenaffäre wurde von den Kollegen verlangt, der CH 91 konsequent die kalte Schulter zu zeigen. Schneider wurde als Streikbrecher betrachtet, als «Hurer», wie er schreibt, versuchte sich für sich und seine Arbeit zu wehren, packte es aber, wie er es nun in «Kind der Aare» einsieht, falsch an.
Schneider weiss, dass er sich manchmal selber im Wege stand, dass er Entscheidungen traf, die einer grösseren – verdienten! – Anerkennung und wohl auch einem grösseren – verdienten! –Erfolg hinderlich waren: «Aber man tut, was man tut. Für das, was man tut, gibt es Gründe. Die besseren Gründe jedenfalls als für das, was man nicht tut. Sonst würde man ja das tun, was man schlussendlich nicht getan hat.»
Hätte er für die Publikation seiner Werke einen anderen, grösseren Verlag suchen sollen? Hätte er bei der Premiere von «Brod und Wein» 1973 anders handeln sollen? «Ich habe offenbar ein Laster: Ich kann mich nicht für meine Texte wehren», schreibt er einmal.
Kein geschickter Vermarkter
Das mag umso mehr erstaunen, wenn man Hansjörg Schneider kennt. Er, der nie mit seiner Meinung hinter dem Berg hält, der Tacheles redet, wenn Tacheles reden angezeigt ist, war aber in seinem Berufsleben wohl tatsächlich kein geschickter Vermarkter seiner selbst. Und bedauert das in «Kind der Aare», auch wenn er gleichzeitig ja ins Feld führt, es habe «Gründe» gegeben.
Er schliesst mit dem Satz: «Ich habe geschrieben, was ich schreiben wollte.» Das trifft wohl auf sein Werk im Ganzen wie auch speziell auf «Kind der Aare» zu. Ein Buch übrigens, in dem er kaum Privates erzählt, wenn es um sein Familienleben und vor allem seine beiden Kinder geht. Sie lässt er ganz bewusst auf der Seite.
Wenn den treuen Leserinnen und Lesern der BaZ einige Passagen in «Kind der Aare» bekannt vorkommen, gerade dort, wo es um Basel geht, ist das kein Zufall. Hansjörg Schneider hatte bis letzten Herbst eine schöne Kolumne in dieser Zeitung. Sie hiess «Kleine grosse Welt», und ein paar der Episoden aus seinem Leben, die er nun in seine Autobiografie hat einfliessen lassen, boten auch Stoff für seine Kolumne, die aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurde. Ein Entscheid, der ihn geschmerzt hat. Es hätte dieser Zeitung gut angestanden, einen solchen Schriftsteller von Rang und Namen weiterhin regelmässig zu Wort kommen zu lassen.
Hansjörg Schneider: «Kind der Aare», Diogenes Verlag Zürich 2018, 326 S., ca. Fr. 30.–. (Ab 28. Februar im Handel.)
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