
Der Krieg in der Ukraine verstört zutiefst. Die Schweizer Bevölkerung spendet Geld, schnürt Hilfspakete, versammelt sich zu Kundgebungen. Viele bieten Wohnraum an für Flüchtlinge oder organisieren Transporte, die dringend benötigtes Hilfsmaterial in die Krisengebiete bringen. Man tut, was man kann.
Die politischen Entscheidungsträger stürzt der Antrieb, zu helfen, in tiefe Konflikte. Darf man tun, was man kann? Dass humanitäre Korridore verlangt, Transportmöglichkeiten organisiert und Unterkünfte bereitgestellt werden müssen, ist unbestritten. Auch die Schweiz hat mit dem Schutzstatus S schnellen und unbürokratischen Schutz versprochen.
Der einflussreiche US-Philosoph Jeff McMahan hält Waffenlieferungen für eine moralische Pflicht.
Andere Staaten liefern darüber hinaus Waffen und Kriegsmaterial in die überfallene Ukraine. Es werden Panzer und Truppen in die Grenzregionen verschoben. Der einflussreiche Philosoph Jeff McMahan hält Waffenlieferungen jetzt für eine moralische Pflicht: Wir müssen unschuldig Attackierten helfen, sich zu verteidigen, wenn sie allein dazu nicht in der Lage sind.
Diese Entscheidung kann und soll man sich jedoch nicht leicht machen. Da sind zum einen die unabsehbaren Folgen: Werden die Waffenlieferungen nicht einen blutigen Krieg verlängern, den die Ukraine niemals gewinnen kann? Freilich dient jeder Tag, an dem die Ukraine durchhält, der Schwächung des Systems Putin. Letztlich kommt das ganz Europa zugute. Dass man den Ukrainern nicht nur als Handlanger zur Seite steht, sondern die Nato eingreift, steht aus sicherheitspolitischen Gründen gegenwärtig nicht zur Debatte. Dann gilt es aber ehrlich zu bekennen, dass die militärische Unterstützung der Ukraine auch eigennützig erfolgt – gegenwärtig aber allein die Ukraine den Blutzoll für diesen Krieg bezahlt.
Pazifisten stehen der Option, den Frieden mit Militärgewalt zu verteidigen, weitaus kritischer gegenüber. Erstens tötet Krieg immer auch unschuldige Zivilisten. Zweitens fallen Menschen, die zwar gemäss Völkerrecht «Kombattanten» sind. Doch grad in der Ukraine kämpfen auch über Nacht ausgebildete Zivilisten. Wie frei sind die Kriegsteilnehmenden in ihrer Entscheidung? Darf man Menschen zwingen, ihr Land unter Lebensgefahr zu verteidigen?
Keir Starmer, Chef der Labour-Partei, beschuldigte die britische Friedensbewegung «Stop the War Coalition», im besten Fall naiv, im schlechtesten Fall solidarisch mit dem Aggressor zu sein. Die Vorwürfe sind so alt wie der Pazifismus selbst. Doch darf man nicht vergessen, dass auch aufseiten der kriegsbefürwortenden Realisten Naivität verbreitet war: Die Vorstellung, man könne den Frieden mit Waffengewalt erzwingen, hat sich zumindest in Afghanistan und im Irak gänzlich zerschlagen.
Ob und wie Waffengewalt Frieden langfristig befördert, ist eine konfliktreiche Frage, die keine einfache Antwort kennt. Eindeutig ist dagegen zweierlei:
Erstens: Das liberale Friedensverständnis, das im Anschluss an Immanuel Kant auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung von Konflikten setzt, ist kein Selbstläufer mehr. Die ökonomische Verflechtung taugt nicht als Sicherheitsgarantin. Den Traum von supranationalen Staatenbündnissen anstelle vom expansiven Grossreich teilen nicht alle, nicht mal alle in Europa.
«Wir haben zu lange der Chronik eines angekündigten Krieges zugesehen.»
Zweitens: Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Der Historiker Karl Schlögel hat in seinem Buch «Entscheidung in Kiew» bereits 2015 vor der Katastrophe gewarnt. Zu Recht warf er Europa in seiner Rede vom 6. März auf dem Berliner Bebelplatz vor, wir hätten viel zu lange der Chronik eines angekündigten Krieges zugesehen.
Die Sehnsucht nach Frieden wirft nicht nur die Frage auf, ob man Waffen liefern soll, sondern auch, wie sehr man sich einsetzt für die langfristige Friedenssicherung. Hierzu kann und muss auch die neutrale Schweiz beitragen, für die Waffenlieferungen kein Thema sind.
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Kolumne von Barbara Bleisch – Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg
Sind Waffenlieferungen in die Ukraine eine moralische Pflicht? Oder verlängern wir damit einen blutigen Krieg? Klar ist: Das liberale Friedensverständnis ist unter Druck.