Freudentanz im Bluthaus
So kurzweilig kann Oper sein: Der Einakter «Elektra» von Richard Strauss am Theater Basel

Es ist keine Basler Produktion im strengen Sinn, denn David Böschs Inszenierung war schon in Essen und Antwerpen zu sehen. Aber es ist eine rundum geglückte Produktion, vergessen sei Böschs Inszenierung von Mozarts «Idomeneo» vor viereinhalb Jahren in Basel. Die «Tragödie in einem Aufzug» von 1909 – erste Zusammenarbeit zwischen Strauss und Hofmannsthal – geht packend über die Bühne. Die eindreiviertel Stunden Spieldauer vergehen wie im Fluge, es wird vorzüglich gesungen, und das Sinfonieorchester Basel spielt im engen Orchestergraben unter dem Dirigenten Erik Nielsen farbig und diszipliniert. Strauss sprach von «psychischer Polyphonie», heute gilt «Elektra» als Hauptwerk des musikalischen Expressionismus. Nie hat sich dieser Komponist weiter auf das Gebiet der «Emanzipation der Dissonanz» vorgewagt. Danach erholte er sich mit dem «Rosenkavalier» von der «Elektra»-Radikalität.
Strauss hat der geheimen Zentralfigur, dem von Klytämnestra ermordeten Agamemnon, im ersten Takt ein Denkmal gesetzt: Da erklingt eine Tonfolge, welcher später der Name Agamemnon unterlegt wird. Auf der Bühne (Patrick Bannwart, Maria Wolgast) erinnern Grabkerzen an den Vater von Elektra, Chrysothemis und Orest. Ein zweiter Kerzenkreis ist dem Gedenken an Iphigenie gewidmet, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert wurde. Wir erleben eine vaterlose Gesellschaft – auf eine der rostroten Mauern sind die Worte «Mama, where is Papa?» aufgepinselt, wohl von der Hand der Elektra. Psychologen sprechen vom «Elektra-Komplex», womit eine starke Vaterfixierung gemeint ist, Pendant zum «Ödipuskomplex».
Spiel und Gewalt
Elektra ist halb Kind und halb Furie, zerrissen zwischen Verspieltheit und Rachegier, bald aufbegehrend und bald bereit zur Selbstauslöschung. Noch stehen auf der Bühne das Kinderbett, das Schaukelpferd und Spielsachen der Prinzessin, die ein Bild ihres Vaters wie einen kostbaren Schatz herumträgt und ihre Hände in Blut taucht. Als ihre Mutter Klytämnestra den Königshof betritt, fallen Opfertiere vom Schnürboden, mit blutroten Nabelschnüren an die mykenische Königin gekettet.
Ihr Mienenspiel und ihre intensive musikalische Gestaltung verleihen der von Schuldgefühlen und Albträumen heimgesuchten Figur, an welcher im wirklichen wie im übertragenen Sinn Blut klebt, unerhörte Präsenz (Ursula Hesse von den Steinen).
Elektra steht die ganze Zeit auf der Bühne, und Rachel Nicholls verleiht dieser in jeder Hinsicht extremen Figur viel Dringlichkeit: stark im Forte, ohne zu forcieren, perfekt in der Einteilung des Atems, noch in der höhnischen Ankündigung des Muttermordes textverständlich und körperlich agil. Ihre Freudentänze wirken keinen Augenblick lang unglaubwürdig, sondern bewahren eine kindliche Spontaneität. Eine bemerkenswerte Entwicklung macht Elektras Verhältnis zur Schwester Chrysothemis durch: Erst von Feindseligkeit gegenüber dem biederen, nur das kleine Mutterglück suchenden Mädchen geprägt (mit hellem, strahlendem Sopran und makelloser Artikulation: Pauliina Linnosaari), wird Elektras Verhältnis zu Chrysothemis zunehmend intim.
Chrysothemis wird den Mord an Klytämnestra am Ende ebenso bejubeln wie ihre tatkräftige Schwester. Strauss sprach einmal davon, seine Oper «Salome» sei «purpur und violett», während «Elektra schwarz und hell» sei. In der Basler Inszenierung ist Klytämnestra schwarz und Elektra weiss gekleidet, während Chrysothemis in Blau auftritt.
Männer im Abseits
Klytämnestra gilt als letzte Vertreterin des Mutterrechts und Elektra als Protagonistin des Vaterrechts. «Die Morgenröte, die sich über Mykene erhebt, ist die unserer Unterdrückung», schrieb die französische Feministin und Opernkennerin Catherine Clément. Doch muss man lange warten, bis in dieser Oper Männerstimmen zu hören sind: die beiden Diener, die mit blutigen Schürzen neue Tieropfer erahnen lassen.
Und dann der totgesagte Bruder Orest, der inkognito mit einer schwarzen Kapuze den Königshof betritt, lange von Elektra abgewandt bleibt, bereit, sich zum Werkzeug der Schwester zu machen. Es gibt keinen banaleren Auftritt als den des Orest mit den Worten «Ich muss hier warten» – da begegnen Strauss und Hofmannsthal ihrem eigenen Geschlecht mit bitterer Ironie, während sie die Frauenrollen stark, vielschichtig und interessant gestalten.
Als Orest im Auftrag Elektras zum Muttermord schreitet, wofür er nicht einmal das von ihr gereichte Beil benötigt, giesst sich Elektra ein Gläschen Schampus ein. Und nachdem Klytämnestras neuer Mann Ägisth (tenoral eindrücklich: Rolf Romei) in Anzug und Krawatte fast über die Opfertiere gestolpert ist, befördert Orest auch diesen Opportunisten ins Jenseits.
Michael Kupfer-Radecky verleiht der Partie des Vollstreckers von Elektras Willen mit scharf zeichnendem Bariton klares Profil und musikalischen Charakter. Das tiefe Blech des Orchesters – Strauss schreibt «Wagnertuben» vor – grundiert diesen Auftritt mit dunklen, schicksalhaften Farben. Den Schluss der Oper hat Regisseur Bösch verändert. Im originalen Libretto «stürzt» Elektra zu den Worten «schweigen und tanzen» «zusammen». In der Basler Fassung ist es Orest, der sich die Pulsadern aufschneidet und sein Leben aushaucht, während Elektra überlebt. So bleibt es dem Bruder wenigstens erspart, wie in der Sage von den Rachegöttinnen verfolgt zu werden.
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