Fremdschämen ist nichts als Wichtigtuerei
In Leserbriefen und Onlinekommentaren, auf Facebook, in Blogs posaunen Menschen heraus: «Ich schäme mich, Schweizer zu sein» oder «Ich schäme mich für die Schweiz», manche rufen sogar «Ich schäme mich, Mensch zu sein». Vor allem Wahlen, Abstimmungen und Gerichtsurteile, aber auch der Abschuss eines Wolfs benützen die Leute, um sich coram publico in Grund und Boden zu schämen. Und es ist absehbar, dass es am 28. November und in den nachfolgenden Tagen und Wochen wieder zu massenhaft öffentlichen Scham-Bekenntnissen kommt. Ich hingegen fühle keinerlei Bedürfnis, mich öffentlich selbst zu kasteien (und notabene auch keines, mich vor Stolz aufzuplustern). B. K.
Liebe Frau K.
Gerne hätte ich Sie mit einem originellen Dreh überrascht, welche die Schämerei, die Sie beschreiben, in ein etwas günstigeres Licht hätte rücken können. Ich habe also lange hin und her überlegt, ob und wie man an der kollektiven Fremdscham nicht doch noch wenigstens ein gutes Haar entdecken könnte, aus dem sich eine hübsche Locke drehen liesse. Aber ich habe keines gefunden. Auch ich kann in all diesen konfektionierten Schambekenntnissen nichts anderes als aufgeblasene Wichtigtuerei erkennen: Der gefühlige Textbaustein ersetzt das Argument. Was mich am unangenehmsten an diesem Gruppenschämen berührt, ist sein Appellcharakter: Machen Sie mit! Werden Sie auch Mitglied der Facebook-Gruppe «Ich schäme mich, ein XYZ zu sein». Was wie ein öffentlich deklarierter Dissens zur Mehrheit, zum Mainstream oder zum Zeitgeist daherkommt, ist dann doch bloss ein Aufruf zu einer anderen Art der Konformität. Es ist wie die Aufforderung zum Mitschunkeln. Die Schunkelnden können sich gar nicht vorstellen, dass es nicht das Grösste ist, sich bei ihnen unterzuhaken und auf die Bänke zu steigen und gemeinsam das Lied von der Scham anzustimmen.
Sich zu schämen, ein Schweizer zu sein, ist genauso blöd, wie stolz darauf zu sein. Beides zeugt nicht von besonderer staatsbürgerlicher Sensibilität, sondern von einer ziemlichen Verwirrung in politischen Angelegenheiten. Man soll sich was schämen, wenn man aus Faulheit eine Abstimmung verpasst hat. Man kann sich mit Recht auch schämen, wenn einem nachträglich dämmert, dass das Ja oder Nein, das man auf den Stimmzettel geschrieben hat, mehr von Ressentiment als von Sachkenntnis diktiert war. All das ist eine produktive Form der Scham: Sie führt dazu, dass man sich beim nächsten Mal mehr Mühe gibt. Sie kostet einen etwas, nämlich den Finger aus dem Hintern zu nehmen. Die andere Scham hingegen kostet einen gar nichts: Sie ist selber nur die Gschpürsch-mi-Variante des Rückzugs in ein selbst gebasteltes Justemilieu voller Selbstgerechtigkeit.
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