Frau Merkels Predigt auf dem Münsterplatz
Die Bundeskanzlerin hielt gestern in Freiburg eine kleine Rede vor grossem Publikum.

Um 12.10 Uhr ist Angela Merkel noch im Himmel über Süddeutschland, fliegt in einem Hubschrauber von Offenburg nach Freiburg. In Offenburg hat sie bei einer kleinen, morgendlichen Geburtstagsfeier zu Wolfgang Schäubles 75sten gratuliert. In Freiburg wird sie ab 12.30 Uhr auf dem Münsterplatz die Gratulationen ihrer Anhänger entgegennehmen.
Man könnte die Geschichte ihrer Wahl, die ja auch ein bisschen jene von Martin Schulz ist, ganz kurz erzählen. Als Martin Schulz an einem Samstag nach Freiburg kam, schien zuerst die Sonne, und dann kam der Regen. Als am Montag Angela Merkel nach Freiburg kam, regnete es zuerst, und dann schien die Sonne.
Der Helikopter passt als Metapher ganz gut zu Merkel, die auch «Mutti» genannt wird, nicht abschätzend, sondern eher mit jenem Respekt, den man Religionslehrerinnen entgegenbringt. Merkel hat ein bisschen was von einer gewährenden «Helikopter-Mutter», die über den Bürgern dieses Landes kreist, um beides zu tun: aufpassen und da sein.
Es ist eine sanfte Landung in Freiburg. Oben auf der Bühne steht die Moderatorin Claudia von Brauchitsch und ruft mit professioneller Begeisterung: «Meine Damen und Herren, es ist 12.30 Uhr. Um 12.30 Uhr sollte die Kanzlerin hier sein. Meine Damen und Herren, die Kanzlerin ist hier.» Hier ist in diesem Moment irgendwo dort in der Menschenmenge. 4000 Besucher zählt die Polizei. Knappe fünf Minuten braucht Merkel bis auf die Bühne. Im Schlepptau die gesamte baden-württembergische Politprominenz, Direktmandat-Kandidaten, und sie stehen um «Mutti» herum auf der Bühne, als ob sie alle gemeinsam Geburtstag hätten.
Merkel winkt und lächelt, was immer ein wenig verlegen wirkt bei ihr, und überquert die Bühne und das Transparent, auf dem steht: «Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben», und stellt sich hinter das Rednerpult.
Alle sind «muttiviert»
Eine Stunde zuvor standen da noch andere, die lokale Politprominenz, verteilte sich selbst gute Noten und beteuerte, dass sie zwar viel, aber noch nicht genug erreicht hätten. Zwischen den Kurzauftritten mit den Kurzsätzen (Wir brauchen mehr Internet im Schwarzwald. Wir haben in Freiburg zusätzlich 25 Polizisten in den Dienst aufgenommen. CDU, das ist wirtschaftlicher Sachverstand gepaart mit sozialem Engagement) spielte eine Band mit dem etwas peinlichen Namen «Victory 17», und die Bandmitglieder sind im Schnitt beinahe so alt wie die Bundesrepublik Deutschland. Der erste Song, den sie spielen, ist «Can't get enough of you». Das übliche Vorgeplänkel: ein bisschen Musik und ein paar Politiker zum Einheizen.
Merkel ist «muttiviert» an diesem Morgen, vielleicht gab es ein Glas Sekt bei Wolfgang. Ganz am Ende ihrer Rede, die weder einschläfernd noch leidenschaftlich ist, vielleicht wie eine dünn bewachsene Landschaft ohne Hügel und Täler unter einem Novemberhimmel, durch den manchmal ganz kurz etwas Sonne dringt, sagt sie: «Wir brauchen keine Experimente. Wir brauchen Stabilität und Sicherheit.» Das ist natürlich der Nukleus aller Konservativen, und das ist die Quintessenz von Merkels Politik: keine Experimente, und politisch sinnvoll ist nur, was Stabilität erzeugt. Zwei Wahlen hat sie damit gewonnen, bald die dritte. Stabilität und Sicherheit finden in Deutschland mehr Gehör als das Postulat der Sozialisten, die Gerechtigkeit. Weil der mittelständische Deutsche das Gefühl hat, es gebe schon genug Gerechtigkeit in seinem Land, und Gerechtigkeit ist teurer als Stabilität und Sicherheit. Und der CDUler findet es darüber hinaus gerecht und vor allem gerechtfertigt, dass es ihm gut geht. Weil er arbeitet, Steuern bezahlt und nicht aus der Ordnung fällt.
Von hinter der Absperrung auf dem Münsterplatz, dort, wo die Stehplätze anfangen, hört man Trillerpfeifen und Buhrufe. Merkel redet gerade darüber, dass die Union die Arbeitslosigkeit halbiert habe, also über fünf Millionen Menschen wieder in Beschäftigung gebracht habe, das seien fünf Million, die eine bessere Lebensperspektive hätten, die Steuern zahlten, die die Gemeinschaft mitfinanzierten, und da beginnt das Gebrülle und das Gepfeife, und Merkel sagt ganz ruhig: «Da gibt es ein paar Menschen in Deutschland, die denken, das könne man mit Pfeifen und Brüllen erreichen. Denen sage ich: Das geht nur mit Arbeit.» Das war ihr erster grosser Applaus.
Die Polizei weiss nicht, wer die Störenfriede waren. Ob AfDler, die inzwischen fast rituell Wahlkampf-Auftritte von Merkel oder andern von der Union stören, oder irgendwelche jugendlichen Freiburger Studenten mit generellem Unzufriedenheitspotenzial.
Merkel beackert jetzt die Felder ihrer Politik so gleichmässig, wie ein Dieselmotor läuft. Sie stottert nicht, sie bremst nicht, sie gibt kein Gas, sie fährt die Strasse ihrer Rede ab, das Lenkrad fest in beiden Händen, keinen Blick nach rechts, schon gar keinen nach links, stabile, sichere Fahrlage.
Dort, wo Merkel ist, ist die Mitte von allem, von gut und schlecht, von links und rechts, von richtig und falsch, von Schönheit und Hässlichkeit, von Mitleid und Brutalität. Vielleicht liegt es daran, dass sie stets wie eine Säule der Undurchdringlichkeit wirkt. Dass sie nie lächerlich wirkt. Dass sie neben allem stehen kann, ohne je peinlich zu wirken, neben Eseln, Trumps, Erdogans, Putins, Kim Jong Uns, sogar neben Horst Seehofer.
Zuverlässig wie ein Dieselmotor
Merkel ist eine Unangreifbare geworden, zumindest gegen aussen, das lässt sie souverän wirken. Man wirft ihr vor, dass alles an ihr abperlt, dass nichts zu ihr durchdringt. Merkel ist unergründlich, und vielleicht ist das ein Grund, weshalb sie sich zwölf Jahre als Bundeskanzlerin halten konnte und alles durchgestanden hat, die Bankenkrise etwa oder die Flüchtlingskrise. Merkels Politik, so scheint es, war nie der Grund für irgendetwas, sondern immer die Lösung.
Wenn sie spricht, denkt man gelegentlich, dass alles so einfach ist wie in einer Kindersendung. «Ein Leben in Freiheit ist nur möglich in Sicherheit. Und die Union setzt sich für Sicherheit ein. Und wo wir schon dabei sind. Ich möchte den Polizisten hier danken.» Oder: «Politik, das sind nicht Parteien und Minister. Politik ist, dass wir alle gemeinsam etwas schaffen, das uns anschliessend alle bereichert.»
Ihre Zuhörer lauschen ihr andächtig, teils gar mit Verzückung, so, als ob das hier keine Wahlrede, sondern ein Familiengottesdienst ist und man nicht auf dem Münsterplatz sitzt oder steht, sondern im Münster selbst. Merkel in ihrer Undefinierbarkeit ist schon längst zu einer Art diffusen Hüterin des deutschen Anstands und der Moral geworden, zur Inkarnation deutscher Vernunft.
Seltsamerweise wird stets ihr Kontrahent Schulz als Mann aus dem Volk bezeichnet, und das ist er vielleicht auch, aber diese bisweilen sphinxhafte Frau gibt einem viel mehr dieses Gefühl, «eine von uns» zu sein. Weil sie bescheiden wirkt und trotz gelegentlicher Entrücktheit doch geerdet. Sie ist der Typ, der einen glauben lässt, dass sie sowohl Kleingarten kann als auch grosse Politik. Und es liegt vielleicht daran, dass sie leise auftritt und nie poltert und dass sie ihre Macht und ihre Machtkämpfe so geräuschlos ausübt, dass sie vergessen macht, dass Politik, auch in Deutschland, bisweilen ein schmutziges Geschäft ist.
Alles wird gut
Das alles geht so weit, dass es irgendwann gar keine Rolle mehr spielt, was genau sie sagt, es genügt, dass sie irgendetwas sagt. Mit den Dieselbetrügern von VW und Audi geht sie um wie eine Mutter mit ihrem Lieblingssohn. Sagt, dass «einzelne» bedauerlicherweise «riesige» Fehler gemacht hätten, dass das jetzt aber wieder gut kommt und sie weiter «Vertrauen in Diesel» habe und die Automobilbranche ein wichtiges Standbein für die wirtschaftliche Stärke Deutschlands sei. Sie glaube aber auch an Elektroautos, sagt sie noch, und unter dem Strich, so klingt das in Freiburg auf dem Münsterplatz, ist jetzt alles wieder in Ordnung.
Das sei ja alles auch nicht einfach heutzutage, fährt sie fort, da sei diese Welt, die sich so schnell und dramatisch ändere, Digitalisierung, überall, auch auf dem Land, und da müsse man was tun, da müsse flächendeckend Internet hin. Die Leute applaudieren, und man fragt sich, weshalb. Digitalisierung ist ja nicht erst seit gestern, und Internet auch nicht, und dass ein Land wie Deutschland diesbezüglich eine so löchrige Abdeckung hat, ist im Grunde peinlich. Auch für jene, die dieses Land regieren, seit es Internet in grossem Stil gibt.
Sie streift noch andere Themen: Weiterbildung für Lehrer, Bildungschancen, Familie, Freibeträge im Steuerrecht für Kinder, Pflegeversicherung, die härtere Bestrafung von Wohnungseinbrechern, Flüchtlingspolitik, Entwicklungspolitik. Alles wird gut.
Als sie fertig geredet hat, ist ihr ein grosser Applaus sicher, die Lokalprominenz darf wieder auf die Bühne, man singt die Nationalhymne, sie bekommt einen Früchtekorb, und danach fliegt sie davon. So schnell, wie sie weg ist, vergessen die Leute auch, was sie gesagt hat. Es ist auch nicht wirklich wichtig. «Weil», wie einer sagt, «Angela macht dann schon das Richtige.»
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