Reform der EUEuropas Bürger erringen Punktesieg
Wie soll die Europäische Union künftig aussehen? Eine Zukunftskonferenz entwickelt Vorschläge mit Sprengkraft: weniger nationale Vetos, gemeinsame Schulden und mehr Rechte fürs Parlament.

Als Ursula von der Leyen im Juli 2019 darum kämpfte, zur Chefin der EU-Kommission gewählt zu werden, war mehr Bürgerbeteiligung ein wichtiges Argument. Sie wünsche sich, dass die Bürgerinnen und Bürger «eine führende und aktive Rolle dabei spielen», die Zukunft der Europäischen Union zu gestalten, sagte sie bei ihrer Bewerbungsrede im EU-Parlament und schlug eine «Konferenz zur Zukunft Europas» vor. Sie sollte 2020 beginnen und zwei Jahre dauern.
Wegen der Pandemie wurde nur ein knappes Jahr beraten, und viele Diskussionen zwischen den 800 zufällig ausgewählten Bürgern, Ministern sowie Vertretern des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente fanden online statt. Über eine interaktive Plattform konnten Interessierte in 24 Sprachen Ideen einbringen. Dass die Konferenz kaum Aufmerksamkeit bekam, lag vor allem daran, dass sie von vielen Regierungen skeptisch gesehen und kaum beworben wurde.
49 Vorschläge, 200 Massnahmen
Der nun vorgestellte Abschlussbericht enthält 49 Vorschläge und mehr als 200 Massnahmen – und birgt Sprengkraft. Viele Ideen erfordern nämlich, die europäischen Verträge zu ändern – in Frankreich oder den Niederlanden wären dafür Volksbefragungen nötig.
Unter anderem schlägt die Zukunftskonferenz vor, das Prinzip der Einstimmigkeit auf vielen Politikfeldern abzuschaffen. So soll etwa ein nationales Veto in der Aussenpolitik oder in Steuerfragen nicht mehr möglich sein, hier soll künftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Der aktuelle Zustand, dass ein Mitgliedsland – zurzeit meist Ungarn – Entscheidungen bremst oder blockiert, wäre also vorbei.
Ausnahmen gäbe es lediglich bei der Aufnahme neuer Mitglieder und Änderungen an den Grundprinzipien der EU. Zudem sollen für europäische Investitionen künftig gemeinsam Schulden aufgenommen werden können. Und das Europaparlament soll vorschlagen dürfen. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie plädiert die Zukunftskonferenz dafür, dass die EU für «Gesundheit und Gesundheitsversorgung» ebenfalls eine Zuständigkeit erhält.
Kein Widerstand der Regierungen
In weiten Teilen liest sich das Dokument so, als hätten es die grossen Fraktionen allein verfasst – ohne die Kommission und vor allem ohne die Mitgliedstaaten. Deren Vertreter nahmen die Zukunftskonferenz nicht wirklich ernst, was nun Folgen hat. Anfang der Woche wurden im neunköpfigen Exekutivausschuss der Zukunftskonferenz die finalen Vorschläge angenommen; ihm gehören je drei Vertreter von Parlament, Kommission und dem Rat der Mitgliedstaaten an.
Erstaunlich ist, dass die Regierungen keinen Widerstand leisteten. Sie wurden im Exekutivausschuss repräsentiert von Tschechien, Schweden und Frankreich. Prag schickte keinen Vertreter. Schwedens Europaminister musste zugeben, dass er kein Mandat hat, die Vorschläge abzulehnen. Vom französischen Europaminister Clément Beaune kamen wie erwartet keine grossen Einwände: Präsident Emmanuel Macron hatte die Idee der Zukunftskonferenz vorangetrieben.
Von der Leyen nimmt am 9. Mai Stellung
Mehrere Europaabgeordnete wollen bereits diese Woche gemäss Artikel 48 des EU-Vertrags einen Konvent für Vertragsänderungen anstrengen. «Wir werden alles tun, diese Vorschläge so schnell wie möglich umzusetzen», versprach der Liberale Guy Verhofstadt aus Belgien. Reformen seien nötig, um die Demokratie in der EU zu bewahren und Europa gegen Autokraten zu verteidigen.
Sowohl Skeptiker als auch Befürworter von Vertragsänderungen warten nun auf den 9. Mai. Dann wollen die Präsidentinnen von EU-Kommission und Europaparlament, Ursula von der Leyen und Roberta Metsola, sowie Emmanuel Macron als Vertreter der Mitgliedstaaten Stellung nehmen zum Abschlussbericht. Nach dem Festakt in Strassburg dürfte klarer sein, wo die Ideen der Zukunftskonferenz landen: in der Schublade oder im Zentrum der Debatte.
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