Europa: Die Inspiration und die Anklage
Fremde und Flüchtlinge - das sind die letzten Karten, die der Linken bleiben. Die Sicht eines Marokkaners, der seit 2011 als Flüchtling in der Schweiz lebt.

An meinem fünfzehnten Geburtstag war es, im Sommer 2005 in Nord-Marokko, als ich an eine Reihe kurzer Online-Artikel über die europäische Aufklärung geriet. Was ich las, bildete den Anfang einer radikalen Veränderung meines Lebens.
Die Erkenntnis war überwältigend, dass Europa, heute ein entwickelter und freier Kontinent, bis zum 18. Jahrhundert so war wie irgendein muslimisches Land; religiöses Dogma, Ungleichheit, sektiererische Kriege, Angriffe auf die Redefreiheit und Angst, seinen Verstand zu benutzen. Weiterhin war es sehr anregend, zu lesen, dass die Philosophen Europas, die für individuelle Freiheit stritten, für freie Meinungsäusserung, für die Notwendigkeit des eigenständigen Denkens und die Ausrottung religiöser Autorität, nicht mehr als eine Handvoll waren; ohne Unterstützung im Volk, unter Verfolgung leidend, im Exil lebend.
Immer noch verblüfft mich die Tatsache, dass diese philosophische und politische Bewegung sich nicht um übliche Grenzen kümmerte, weder geografische noch sprachliche. Viele Philosophen sprachen von der menschlichen Rasse, nicht der europäischen, und hiessen den Fortschritt willkommen, den der Geist des Menschen brachte, nicht der Geist Europas.
Ein völlig verändertes Europa
Um die Faszination der europäischen Aufklärung innerhalb der islamischen Welt zu verstehen, sollten wir uns der historischen Kontexte beider Kulturen bewusst sein. Heute kennt man in Frankreich, Deutschland und England keine religiöse Verfolgung mehr. Niemand, der seine Religion verlässt oder seine Meinung äussert, muss ein Nachspiel befürchten; vielleicht wie immer ausgenommen einige Mitglieder der konservativsten religiösen Gruppen, den Islam eingeschlossen, deren Überzeugungen mit modernen säkularen Gesellschaften inkompatibel sind und die den Schutz individueller Freiheit als Angriff auf ihre Religionsfreiheit interpretieren.
Derweil unterscheidet sich die Lage in der muslimischen Welt radikal von der in Europa, gleicht aber derjenigen zu den Zeiten von Spinoza und Denis Diderot. Die Fragen, vor denen die westlichen Philosophen damals standen, stellen immer noch ernsthafte Herausforderungen für jedermann zwischen Tanger und Jakarta dar.
Im Frühjahr 2011 kam ich als politischer Flüchtling auf dem Genfer Flughafen an. Ich brauchte eine Weile, um zu akzeptieren, dass das Europa der Bücher, die mich inspiriert hatten, während ich für die Freiheit schrieb und arbeitete, nicht mehr existierte.
Ich habe dann ein anderes Europa angetroffen; eines, in dem Künstler und Autoren Selbstzensur aus Angst vor Morddrohungen üben müssen; wo Karikaturen über Jesus Redefreiheit sind, Mohammed zu zeichnen aber «Hassrede»; ein Europa, in dem Linke und Feministen, konfrontiert mit dem Leid der Apostaten, in der Frauen und Minderheiten in der islamischen Welt den Kopf in den Sand stecken, während rechte Populisten sich als die neue Stimme der Freiheit darstellen, das Vakuum füllend, das die Linken hinterlassen haben.
Es überrascht mich nicht mehr, in einer französischen Dokumentation Unterstützer des Front National zu sehen, die sich nach einer Rückkehr zur Zeit vor der Aufklärung sehnen, mit einem Mann mittleren Alters, der vor laufender Kamera sagt, er wolle Ludwig XIV. zurück.
Es überrascht mich nicht mehr, wie radikale Islamisten in Europa nach der Scharia rufen und die säkular-pluralistischen Gesellschaften verteufeln, die sie überhaupt erst aufgenommen hatten, während sie von Linken unter den Flaggen von Religionsfreiheit und Kulturrelativismus unterstützt werden.
Was ich nicht verstehe, sind Menschen, die behaupten, liberal zu sein, Verteidiger der Unterdrückten und der Immigranten, und die mich dann angreifen, sobald ich ihre politische Bibel und ideologische Weltsicht infrage stelle. Kürzlich, als die Schweizer Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli einen meiner Artikel über Islamophobie und die westliche Linke auf ihrer Facebook-Seite teilte, beschuldigte mich ein linker Kulturrelativist in seinem Kommentar als «islamophoben, sich selbst hassenden Araber und Eurozentristen».
Neue Welt mit dem Internet
Nach der Sichtweise vieler Linker sollte ich als Immigrant weder eine kritische Meinung über den Islam haben noch Immigranten für das verantwortlich machen, was sie tun oder sagen. Umgekehrt habe ich anscheinend jedes Recht, den Westen zu kritisieren; sie würden mich lieben, gäbe ich vor, ein Opfer von «Rassismus, Diskriminierung, Xenophobie» zu sein. Die Karte des armen unterdrückten Immigranten zu spielen, könnte sehr wahrscheinlich meinen sozialen Status heben und den Weg zu einer erfolgreichen politischen Karriere ebnen. Es zu unterlassen, bedeutet indes, dass ich nur ein weiterer sich selbst hassender Einwanderer bin, der die eigene Kultur verrät.
Die altväterliche ideologische Brille, durch die die Linken seit Jahrzehnten die Welt sehen, ist fort. Sie wurde obsolet, als junge Menschen überall in der muslimischen Welt Zugang zum Internet bekamen, der ihnen erlaubte, dieselben Bücher zu lesen und über sie zu diskutieren wie irgendein Pariser oder Berliner Teenager.
Weder sind wir das neue Proletariat, das den Traum vom Klassenkampf wiederbeleben wird, noch werden wir die existenzielle Krise der Linken beheben, nachdem ihre traditionellen Auftraggeber, die Arbeiter, sie verlassen haben. Fremde, Flüchtlinge, Masseneinwanderung, Kulturrelativismus, die Verteufelung der westlichen Aufklärung, das sind die letzten Karten, die die Linke spielt, das letzte Schlachtfeld, das noch viele mit ideologischer Befriedigung erfüllt, ihnen einen Daseinsgrund liefert.
Ideologisches Patriarchat vorbei
In der heutigen globalisierten Welt können wir lesen, was wir wollen, und uns nach Gusto von wem auch immer inspirieren lassen. Jene, die uns Immigranten des Eurozentrismus und des Selbsthasses bezichtigen, sollten sich besser damit abfinden, denn das Zeitalter des ideologischen Patriarchats ist lange vorbei. Es verschwand mit der Niederlage des Faschismus, dem Fall der Berliner Mauer und dem Anbruch der weltweiten Internet-Revolution.
Postmoderne und Kulturrelativisten, die die Aufklärung für ihre Allgemeingültigkeit angreifen und ihre Verteidiger dafür, «Kolonialisten» zu sein oder Eurozentristen; jene, die ihnen unterstellen, «imperialistische Werte» anderen Kulturen aufzuzwingen, sie sollten sich die folgende Frage stellen: Was ist rassistischer? Die Werte der Aufklärung, Freiheit der Gedanken und des Glaubens, oder der islamistische Zwang, unter dem Raif Badawi in Saudiarabien ausgepeitscht wird, unter dem Blogger in den Strassen Bangladeschs ermordet werden, unter dem Mohamed Mkhaitir in Mauretanien zum Tode verurteilt wird? Was ist gefährlicher? Die Demagogen und Populisten, die Trumps Amerikas und Europas, oder Menschen aus verschiedenen Kulturen, die für die allgemeinen Menschenrechte und die individuelle Freiheit kämpfen?
Kacem El Ghazzali (26) ist ein säkularer Schriftsteller, stammt aus Marokko und lebt seit 2011 als Flüchtling in der Schweiz.
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