«Euch gehört diese Revolution, ihr seid die Zukunft»
In Ägypten dauern die Proteste an. Friedensnobelpreisträger Al-Baradei widersetzte sich dem Hausarrest und schloss sich den Protesten an. Derweil soll die Polizei wieder für Ordnung sorgen.
Unter dem Jubel tausender Demonstranten im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt Kairo hat der Oppositionspolitiker Mohamed Al-Baradei den Ton gegen Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak weiter verschärft. Das Land stehe «am Beginn einer neuen Ära», rief der Friedensnobelpreisträger der Menge am Sonntagabend zu. Im Land breiteten sich nach den seit Dienstag andauernden Massenprotesten gegen die Regierung indes zunehmend Chaos und Anarchie aus.
«Seid ganz ruhig, der Wandel kommt», rief Al-Baradei den Demonstranten auf dem zentralen Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) Stunden nach dem Beginn der nächtlichen Ausgangssperre zu. «Wir sind auf dem richtigen Weg, unsere Anzahl ist unsere Stärke», fügte er hinzu. «Euch gehört diese Revolution. Ihr seid die Zukunft», sagte er vor rund 5'000 Menschen auf dem zentralen Tahrir-Platz. Die wichtigste Forderung des Protests sei das Ende des Regimes und «der Beginn eines neuen Ägyptens, in dem jeder Ägypter in Rechtschaffenheit, Freiheit und Würde leben kann».
Al-Baradei kritisiert die USA
«Wir werden unsere Seele und unser Blut für das Vaterland opfern», skandierten die Demonstranten. Die grösste ägyptische Oppositionsgruppe, die Muslimbruderschaft, hatte Al-Baradei zuvor für Verhandlungen mit der politischen Führung unter Mubarak vorgeschlagen. Der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) bezeichnete einen Rückzug des Staatschefs als unausweichlich. Er forderte zugleich die USA auf, mit Mubarak zu brechen.
Zuvor hatte Al-Baradei in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS den USA vorgeworfen, im Umgang mit Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak «täglich an Glaubwürdigkeit» zu verlieren. Washington rede «einerseits über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte» und unterstütze «andererseits einen Diktator, der sein Volk unterdrückt», sagte der frühere Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am Sonntag dem US-Fernsehsender CBS. Die US-Regierung dürfe «nicht glauben», dass Mubarak «der richtige Mann zur Durchsetzung der Demokratie» sei.
Polizei wieder im Einsatz
Angesichts von Plünderungen hat die ägyptische Polizei am Sonntagabend nach Informationen des Staatsfernsehens wieder Präsenz in den Strassen gezeigt. Der scheidende Innenminister Habib el Adli habe die Polizeikräfte im ganzen Land angewiesen, wieder für Ordnung zu sorgen. Ausserdem berichtete das ägyptische Staatsfernsehen, dass die Dauer der Ausgangssperre in den drei grossen Städten des Landes, Kairo, Suez und Alexandria, ab Montag um eine Stunde verlängert werde. Statt um 16 Uhr (Ortszeit, 15 Uhr MEZ) beginne sie dann bereits um 15 Uhr; bislang endet sie um 8.00 Uhr (Ortszeit).
Staatschef Hosni Mubarak forderte den designierten Regierungschef Ahmed Schafic auf, die Ordnung im Lande wieder herzustellen. Das habe oberste Priorität, habe Mubarak dem Regierungschef bei einem anderthalbstündigen Treffen aufgetragen, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Mena. Ausserdem habe Mubarak im Beisein seines neuen Stellvertreters Omar Suleiman «mehr politische Reformen» gefordert. Bei den Protesten gegen die Regierung Mubarak waren in den vergangenen Tagen mindestens 125 Menschen ums Leben gekommen.
Kampfflieger über Kairo
Offenbar als Machtdemonstration liessen die Streitkräfte zu Beginn des Ausgehverbots um 16.00 Uhr liess die ägyptische Luftwaffe am Sonntag mehrfach Kampfjets im Tiefflug über Kairo fliegen. Die Maschinen donnerten über die Hauptstadt, während im Zentrum mehrere tausend Demonstranten erneut den Rücktritt von Staatschef Hosni Mubarak forderten, wie AFP-Reporter berichteten.
Kurz zuvor berichtete das ägyptische Fernsehen über einen Besuch Mubaraks in der Kommandozentrale der Streitkräfte sowie einem Treffen mit dem von ihm zum Vizepräsidenten ernannten Geheimdienstchef Omar Suleiman, Generalstabschef Sami Anan sowie dem scheidenden Verteidigungsminister Mohamed Hussein Tantawi.
Der Machtkampf zehrt am 82 Jahre alten ägyptischen Herrscher. Das Staatsfernsehen zeigte einen ermüdeten und niedergeschlagenen Präsidenten Es war sein erster Auftritt vor den Kameras seit seiner Ansprache am Freitag.
Ägypten im Chaos
Tausende von Demonstranten haben ihre Proteste gegen das Regime des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak auch am Sonntag trotz einer Ausgangssperre ab 16.00 Uhr fortgesetzt. Auf dem zentralen Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo hielten sich eine Stunde nach Beginn der Ausgangssperre etwa 7000 Demonstranten auf, wie Augenzeugen berichteten. An das Regime von Mubarak gerichtet skandierten sie: «Er geht, wir gehen nicht.»
Die Sicherheitslage im Land, in dem seit Dienstag Unruhen herrschen, geriet am Sonntag ausser Kontrolle: Tausende Häftlinge machten die Strassen unsicher. Sie hatten die chaotische Lage zur Flucht genutzt.
Aus ägyptischen Sicherheitskreisen verlautete, bewaffnete Männer hätten in der Nacht zum Sonntag Gefängnisse angegriffen und auf Wachleute geschossen. Vier Haftanstalten seien betroffen, darunter eine nordwestlich von Kairo, wo Hunderte islamische Extremisten untergebracht seien. Nach stundenlangen Feuergefechten seien Tausende Häftlinge entkommen, darunter Hunderte islamische Extremisten, hiess es. Mehrere Häftlinge wurden den Angaben zufolge getötet, genaue Zahlen wurden aber nicht genannt. Truppen würden nach den Häftlingen suchen, teilweise mithilfe der Polizei, sagten Sicherheitsbeamte der Nachrichtenagentur AP. Das Staatsfernsehen berichtete, das Militär habe bereits Dutzende von ihnen wieder eingefangen.
«Das Heer schützt uns»
Immer augenfälliger wurde, dass die Armee stärker das Zepter übernimmt: So riegelten Soldaten am Sonntag die Zentren Kairos und anderer Grossstädte ab. Soldaten bewachen Banken, Regierungsgebäude und grosse Kreuzungen. Im Gegensatz zur Polizei geniessen die Streitkräfte in der Bevölkerung Ansehen.
Militärhubschrauber kreisten am Sonntag über Kairo, mindestens ein Einkaufszentrum brannte. Auf dem zentralen Tahrir-Platz der Hauptstadt war das Militär verstärkt im Einsatz. Zwei Schützenpanzer blockierten den Eingang zum Platz, wo Zehntausende Demonstranten marschierten. Soldaten arbeiteten mit freiwilligen Demonstranten zusammen, um Ausweiskontrollen durchzuführen und Taschen zu kontrollieren. Sie wollten nach eigenen Angaben nach Waffen suchen und verhindern, dass Polizisten in Zivil den Platz betreten.
«Das Heer schützt uns, sie werden es nicht zulassen, dass sich polizeiliche Eindringlinge hereinschleichen!» rief ein freiwilliger Helfer den wartenden Menschenmengen zu. Auf dem Platz riefen Demonstranten: «Das Heer und die Menschen sind eine vereinte Hand!».
Leute organisieren Bürgerwehren
Das Verschwinden der Polizei von den Strassen mehrere Grossstädte führte dazu, dass mit Waffen und Schlagstöcke ausgerüstete Bürgerwehren provisorische Kontrollpunkte und Barrikaden aus Strassenabsperrungen und Steinen errichteten, um Plünderer von ihrer Nachbarschaft fernzuhalten. Jugendliche übernahmen in einigen Stadtteilen die Verkehrskontrolle. Sie vertrieben Gangs, die vorbeifahrende Autos angriffen.
Im vornehmen Kairoer Bezirk Samalek bildeten sich vor Lebensmittelgeschäften lange Schlagen von Menschen, die ihre Vorräte aufstocken wollten. In einigen Läden wurden die Trinkwasserflaschen knapp. Banken blieben auf Anordnung der ägyptischen Zentralbank am Sonntag geschlossen. Auch die Börse, die normalerweise sonntags die neue Handelswoche eröffnet, blieb geschlossen. Auf Aktienmärkten im Nahen Osten wurden wegen der Unruhen in Ägypten fallende Kurse verzeichnet.
Ägyptische Regierung verbietet Al-Jazeera
Die ägyptische Regierung schloss unterdessen die Grenze zum Gazastreifen und verbot den arabischen Fernsehsender Al-Jazeera. Das ägyptische Staatsfernsehen, die Hauptstadtbüros des Senders seien geschlossen und den Journalisten die Akkreditierung entzogen worden. Eine offizielle Begründung für die Massnahme gab es nicht. Doch ägyptische Behörden hatten dem Sender mit Sitz in Qatar in der Vergangenheit wiederholt Sensationsmache und vorurteilsbeladene Berichterstattung vorgeworfen.
Al-Jazeera nannte das Verbot einen «Akt, der die Freiheit der Berichterstattung des Senders und seiner Journalisten ersticken und unterdrücken soll». In diesen Zeiten schwerer Tumulte sei es aber unerlässlich, dass Stimmen von allen Seiten gehört würden, hiess es in einer Erklärung des Senders. Durch die Schliessung des Büros wolle die ägyptische Regierung das ägyptischen Volk zensieren und zum Schweigen bringen. al-Jazeera kündigte an, seine Berichterstattung fortzusetzen, in welcher Form war aber unklar. Journalisten des Senders würden über Twitter neue Entwicklungen melden, hiess es.
Sorge um Ausländer in Ägypten
Lufthansa und Egypt Air haben ihre für Sonntag geplanten Flüge von und nach Kairo gestrichen, wie ein Sprecher des Flughafens auf dapd-Anfrage mitteilte. Die US-Botschaft in Kairo forderte unterdessen alle Amerikaner auf, das Land zu verlassen.
Die irakische Regierung kündigte an, in Ägypten lebende Staatsbürger kostenlos aus dem Land zu holen. Es würden so viele Flugzeuge geschickt, wie benötigt, um diejenigen rauszuholen, die Ägypten verlassen wollten, sagte der irakische Verkehrsminister Akeel Hadi Kauthar der Nachrichtenagentur AP. Die Zahl der Flüge sei von der Nachfrage abhängig.
«Einige Tage des Horrors machen nichts aus»
Der von Präsident Hosni Mubarak verordnete Rücktritt der Regierung trug offenbar wenig zur Beruhigung der Lage bei. Demonstranten forderten am Sonntag den vollständigen Austausch der Regierung, die sie für die Armut, Arbeitslosigkeit, verbreitete Korruption und Brutalität durch Polizisten im Land verantwortlich machen. «Wenn der Präsident heute geht, wird das Chaos vorbei sein», sagte der Lehrer Hussein Rijad. «Die Menschen leiden seit 30 Jahren, einige Tage des Horrors machen nichts aus.»
Angesichts der anhaltenden Massenproteste gegen seine Regierung hatte Mubarak am Samstag überraschend seine mögliche Nachfolge geregelt: Erstmals seit seinem Amtsantritt im Oktober 1981 ernannte er einen Stellvertreter. Vizepräsident soll der bisherige Geheimdienstchef Omar Suleiman, ein enger Vertrauter, werden. Die Personalentscheidung wurde als scharfe Kehrtwende von seinem bisherigen dynastischen Kurs gesehen, bei dem sein Sohn Gamal als favorisierter Nachfolger des 82-Jährigen galt. Als Nachfolger von Ministerpräsident Ahmed Nasif benannte Mubarak den bisherigen Luftfahrtminister Ahmed Schafik.
dapd/ AFP/ sda/jak
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