WM-Qualifikation: Luis Enrique und SpanienEs droht ein historisches Fiasko
Spanien steht vor einem mühsamen Umweg in Richtung WM 2022. Vor den kapitalen Qualifikationsspielen herrscht deswegen Pessimismus – vor allem in der Hauptstadt Madrid.

Manchmal kann etwas Ablenkung durchaus hilfreich sein. Insofern scheinen in Spanien gerade viele Menschen froh zu sein, dass sich der FC Barcelona in einer epochalen Krise befindet und unlängst mit Xavi Hernandez eine lebende Vereinslegende als neuer Trainer vorgestellt wurde. Das gab zahlreichen Sportzeitungen Futter für einige Tage und sorgte rund um das Nationalteam für etwas Ruhe, bevor die grosse Nervosität zurückkehrt. Oder die Angst. Gerne mündet es auf der Iberischen Halbinsel auch einmal in Hysterie. Denn der Landesauswahl droht ein Fiasko historischen Ausmasses.
Zwei Spiele vor Ende der WM-Qualifikation steht Spanien in der Gruppe B mit zwei Punkten Rückstand auf Schweden nur auf dem zweiten Rang. Es droht ein mühsamer Gang durch die Barrage, ein Weg, der beispielsweise Italien das Turnier in Russland 2018 verpassen liess. «Ein Minenfeld» nennt das Blatt «Marca» den Umweg, bei dem sich nach Halbfinal- und Finalpartien nur drei von zwölf Teilnehmern für die Endrunde 2022 in Katar qualifizieren. Ein Szenario, das auch der Schweiz droht, sollte sie am Freitag gegen Italien verlieren. Angesichts dieser Ausgangslage befasst sich die Zeitung AS schon jetzt mit dem Schlimmsten: «Dass wir die Weltmeisterschaft verpassen, ist ein realistisches Szenario.» Und das aus dem Land des EM-Halbfinalisten und Nations-League-Finalisten 2021. Dieser Pessimismus, der insbesondere in der Hauptstadt Madrid ausgeprägt ist, hat vor allem zwei Gründe. Der erste beruht auf Fakten.

Derjenige nämlich, der mit den beiden Gegnern zu tun hat. Zuerst geht es heute Donnerstag (20.45 Uhr) gegen Griechenland. Auswärts, eine heisse Stimmung ist vorprogrammiert. Hinzu kommt die Erinnerung ans Hinspiel, als die Spanier in Granada trotz 77 Prozent Ballbesitz nicht über ein 1:1 hinauskamen. «Ein Spiel zum Vergessen», titelte «La Razón». Drei Tage später kommt es in Sevilla gegen Schweden zum möglichen Showdown um den Gruppensieg – gegen die Skandinavier haben die Spanier in diesem Jahr weder an der EM (0:0) noch im September in der WM-Qualifikation (1:2) gewinnen können.
Kein Wunder also, achten sie in Südspanien penibel darauf, dass für diese Affiche alles stimmt. Dem Vernehmen nach soll Luis Enrique verlangt haben, dass der Rasen auf exakt 20 Millimeter geschnitten wird. Bei der EM war der Platz noch in einem erbärmlichen Zustand gewesen, darüber regte sich der Nationaltrainer fürchterlich auf. Womit wir beim zweiten Grund für den kapitalen Pessimismus wären. Nicht dem Rasen, sondern bei ebendiesem Luis Enrique.
Ungemütlicher Trainer
In Madrid mögen sie den Asturier nicht, seit 1996, als er von Real zu Erzrivale Barcelona wechselte. Bald darauf verkündete er, wahrscheinlich nicht gänzlich befreit von Selbstironie: «Ich könnte niemals für Real Madrid spielen!» Bei Barça wurde er Captain, Publikumsliebling und 2014 Nachfolger von Pep Guardiola als Trainer. In der ersten Saison verkrachte er sich mit Lionel Messi, setzte ihn auf die Bank – ein paar Monate später feierten sie gemeinsam das Triple aus Liga, Champions League und Cup. Seit 2018 ist er Nationaltrainer, mit einem fünfmonatigen Unterbruch, weil seine Tochter Xana an Knochenkrebs erkrankt war. Sie verstarb im August 2019 im Alter von neun Jahren.
Mitte November übernahm Enrique seinen Posten wieder – nach kurzem Krach mit Stellvertreter Robert Moreno. Die beiden hatten viele Jahre zusammengearbeitet. Dem Vernehmen nach wollte Moreno, der stets Enriques Assistent war, erst nach der EM 2020 wieder Platz machen. Enrique war ausser sich, beschimpfte seinen langjährigen Freund als «illoyal» – und liess ihn rauswerfen. So ist der 51-Jährige: Drastische Entscheidungen scheut er nicht. Nein, er scheint sie sogar zu mögen.
Oftmals erweisen sie sich als richtig, wie vor der EM 2021, als er Sergio Ramos nicht ins Kader berief. In Madrid (und etwas darüber hinaus) war dies eine Majestätsbeleidigung in Richtung Abwehrchef und Real-Legende, die mittlerweile für PSG spielt. Obwohl, spielen tut der 35-Jährige schon länger nicht mehr. Letztmals lief er im März auf; mal plagt ihn das Knie, mal Corona, mal die Muskeln im Oberschenkel oder in der Wade. Dennoch wurde der Nationaltrainer von Medien, viele davon mit Sitz in der Hauptstadt, zerrissen, was er befeuert, indem er weder für die EM noch das Nations-League-Finalturnier auch nur einen einzigen Real-Spieler aufbot. Als «Antimadridista» wurde er in mehr als nur einem Medium bezeichnet. Ihn jedoch liess das kalt, für die Presse hat er ohnehin nicht viel übrig. Bereits als Barça-Trainer antwortete er immer wieder schnippisch. Und als er vor dem Halbfinal in der Nations League gefragt wurde, ob er die viele Kritik über sich lese, antwortete er: «Das interessiert mich nicht, denn ich weiss, dass ich mehr von Fussball verstehe als alle, die über mich schreiben.» Mitten ins Ego vieler, vieler Chronisten.

Immerhin mal wieder ein Real-Spieler
Verzeiht haben sie ihm nicht. Als der Nationaltrainer zuletzt den 17-jährigen Gavi aufbot, echauffierten sich zahlreiche Experten, dass es unter Enrique zu einfach sei, ins Nationalteam zu kommen. Der Mittelfeldspieler jedoch verblüffte, war im Final Four der Nations League einer der Besten, weshalb immerhin in einem Artikel stand: «Wir müssten uns eigentlich bei Luis Enrique entschuldigen.» Es blieb bei «eigentlich». Vielmehr rechnete «Marca» vor den kapitalen Spielen gegen Griechenland und Schweden vor, dass Dani Carvajal der erste Real-Spieler seit 235 Tagen ist, der für La Roja aufgeboten wurde.
Es ist davon auszugehen, dass es mit der Ruhe ums Nationalteam bald vorbei ist. Immerhin erinnert «El País» daran, dass dank den Erfolgen in der Nations League eine Playoff-Teilnahme auch dann garantiert ist, wenn Spanien beide Partien verlieren und hinter Griechenland auf Rang drei in der Tabelle abrutschen sollte.
Fehler gefunden?Jetzt melden.