«Es kann sein, dass jahrelang nichts geht»
Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer über ein Rahmenabkommen mit der EU, «Piesackerei» und fremde Richter.

Heinz Karrer, braucht die Wirtschaft ein Rahmenabkommen?
Ja, aber nicht um jeden Preis. Die Schweiz ist eine Exportnation. 40 Prozent unserer Wertschöpfung machen wir im Ausland und die Hälfte davon in der EU. Darum hat das Verhältnis der Schweiz mit der EU eine so grosse Bedeutung. Wir haben ein Interesse an stabilen Verhältnissen, auf die sich die Unternehmen verlassen können.
Die Hälfte der Exporte ist es nur, wenn Sie die Dienstleistungen weglassen. Die Schweiz ist aber vor allem eine Dienstleistungswirtschaft. Bundesrat Cassis spricht ehrlicherweise jeweils von «sechzig Rappen von zwei Franken».
Richtig, die Dienstleistungen werden immer wichtiger. Aber auch deshalb, weil Dienstleistungen immer häufiger Teil von Gütern werden.
Braucht die Schweiz bald ein Rahmenabkommen oder braucht sie ein gutes Abkommen?
Es gilt «Inhalt vor Zeit». Was für ein Abkommen ausgehandelt wird, ist wichtiger als der Zeitfaktor.
Bundesrat Cassis sagt das auch, aber er sagt gleichzeitig auch, man müsse jetzt «vorwärtsmachen». Ihr Verband hat das auch geschrieben. Was gilt?
Wenn man das Gefühl hat, es sei ein gutes Abkommen möglich, um die Beziehungen mit der EU zu stabilisieren, dann ist es richtig, vorwärtszumachen. Ob das tatsächlich dieses Jahr möglich ist, werden wir sehen. Die einen sagen, es gebe vor dem Wechsel an der Spitze der EU-Kommission dieses Jahr die Möglichkeit dazu. Die anderen sagen, dass es gerade wegen der laufenden Brexit-Verhandlungen keine Fortschritte geben werde. Wir werden das herausfinden. Es kann auch sein, dass jahrelang nichts geht.
Die Schiedsgerichtslösung des Bundesrats ist nichts anderes als die gescheiterte Burkhalter-Lösung mit dem Gerichtshof der EU als entscheidender Instanz. Sie haben diese befürwortet. Weshalb?
Wir haben immer grosse Fragezeichen gemacht gegenüber einer Lösung, bei der der EU-Gerichtshof bei der Streitbeilegung eine dominierende Rolle spielt. Beim Schiedsgericht sehen wir das anders, denn diese Lösung ist nichts, was wir nicht schon in anderen Verträgen kennen würden. Das sind unabhängige Gerichte, die für die Schweiz akzeptierbar sind.
«Was für ein Abkommen ausgehandelt wird, ist wichtiger als der Zeitfaktor.»
Inwiefern ist das Schiedsgericht unabhängig, wenn es vor einem Entscheid das höchste EU-Gericht um eine verbindliche Auslegung von EU-Recht fragen muss?
Wenn es um EU-Recht geht, dann ist das die Aufgabe des Gerichtshofes der EU. Umgekehrt wollen wir ja auch nicht, dass ein anderes Gericht als das Bundesgericht unser Landesrecht auslegt. Wenn es zum Streit kommt und die Schweiz etwas nicht machen will und die EU Sanktionen beschliesst, dann beurteilt aber das Schiedsgericht, ob die Sanktionen der EU verhältnismässig sind. Das ist im Vergleich zu heute ein Gewinn für die Schweiz. Wir können heute zwar über Retorsionsmassnahmen nachdenken, aber eigentlich müssen wir Sanktionen von Brüssel hinnehmen.
Noch einmal: Das erste Schiedsgericht im Prozess, an das die Parteien gelangen können, das ist doch nicht unabhängig, wenn es faktisch jede Frage dem Gerichtshof der EU vorlegen muss.
Es ist entscheidend, von welchen Abkommen wir reden. Für uns geht es nur um 5 von rund 120 bilateralen Abkommen, also Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, Landverkehr, Luftverkehr und Landwirtschaft. Zudem sollen Teile dieser Abkommen auch noch ausgenommen werden, wie zum Beispiel die Flankierenden Massnahmen. Die erwähnten Abkommen haben wesentlich mit EU-Recht zu tun, aber das schmälert den Vorteil gegenüber der heutigen Regelung nicht. Wir haben die Nadelstiche beim Forschungsabkommen oder bei den technischen Handelshemmnissen erlebt.
Die Schiedsgerichte, die wir in anderen Abkommen kennen, die unterbreiten ihre Auslegungsfragen aber nicht dem Gerichtshof der anderen Seite.
Das ist korrekt. Da geht es aber auch nicht um den diskriminierungsfreien Zugang zu einem Markt von rund 500 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten und all den damit verbundenen Vorteilen
Bei einem Freihandelsabkommen geht es doch genau darum.
Nein, da geht es nur um spezifische Zölle und Handelshemmnisse. Es geht bei den bilateralen Beziehungen mit der Europäischen Union zum Beispiel auch um die gegenseitige Personenfreizügigkeit. Die ist nicht Teil eines Freihandelsabkommens.
Das ist ja gerade das Problem. Eine bessere Variante als ein Rahmenabkommen wäre ein Vertrag, wie es die Europäische Union im Ceta-Vertrag mit Kanada abgeschlossen hat. Da hat es alles drin, was wir brauchen, also die Abschaffung technischer Handelshemmnisse oder der Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen, aber ohne Personenfreizügigkeit, ohne Rechtsübernahme und ohne EU-Gericht.
Das würde aber bedeuten, dass wir die heutige attraktive Situation verlassen würden. Wir hätten dann weniger Marktzugang. Ob die EU uns unter anderen Prämissen wieder das Gleiche zugestehen würde, da setze ich ein Fragezeichen. Das sehen wir ja auch bei den schwierigen Brexit-Verhandlungen.
Ich vertraue den Schweizer Verhandlern, dass sie das wieder erreichen – gerade weil wir es ja schon haben und weil es Kanada bekommen hat.
Dann dürften wir heute aber nicht mehr über eine Weiterentwicklung der Bilateralen sprechen, sondern über einen verschlechterten Marktzugang.
Wir müssten einfach sagen, Ceta sei die Weiterentwicklung. Das Rahmenabkommen wird ja auch als Weiterentwicklung verkauft, obwohl wir das noch nicht wissen.
Das, was wir heute haben, das sollten wir sicherstellen, auch noch in 10 oder 20 Jahren, und zudem gezielt ausbauen, wo wir das für nötig erachten. Genau die Fragestellung hätten Sie bei einem Ceta-Abkommen auch.
Ja, bis auf die Tatsache, dass wir mit dem Ceta-Weg ein Schiedsgericht bekämen, das nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union unterstehen würde und wir kein EU-Recht übernehmen müssten – alles Dinge, die bei einer Abstimmung die Befürworter eines Rahmenabkommens in Argumentationsnöte bringen werden.
Es gibt viele Varianten. Tatsache bleibt aber, dass die heutigen bilateralen Abkommen für die Schweiz erstens einen grossen Wert darstellen und zweitens sicherlich vorteilhafter wären.
Noch so ein Punkt ist die Überwachung. Da jede Seite an das Schiedsgericht gelangen kann, ist die EU-Kommission faktisch die Überwachungsbehörde für die Schweiz.
Nein. Überwachung ist die Angelegenheit jeder Seite. Das einseitige Anrufen eines Schiedsgerichtes zur Streitbelegung ist das Normale in einer Partnerschaft.
Wenn sich die Schweiz sich an den Institutionen des EWR andocken würde, eine weitere Möglichkeit, dann wäre das aber nicht so. Die EU müsste zuerst an eine neutrale Untersuchungsbehörde gelangen, an welcher die Schweiz beteiligt wäre und auch am Gericht, dem Efta-Gerichtshof, wäre ein Schweizer beteiligt. Warum gehen Sie diesen Weg nicht?
Weil das wieder eine institutionelle Anbindung wäre und wir davon ausgehen, dass diese bei der Schweizer Bevölkerung eine geringere Akzeptanz hätte.
Obwohl Schweizer bei der Untersuchung am Gericht beteiligt wären?
Beim jetzt vorgesehenen Schiedsgericht sind sie auch beteiligt.
Nicht, wenn sie die Auslegungsfrage an die EU-Richter in Luxemburg senden müssen.
Da nicht, aber wenn es um die Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Sanktionen geht, dann schon. Das ist besser als heute, wo wir den Nadelstichen der EU ausgeliefert sind. In Zukunft können wir, wenn die EU uns wieder einmal piesackt, zum Beispiel politisch uns die Börsenäquivalenz nur beschränkt anerkennt, an ein Schiedsgericht mit Schweizer Beteiligung gelangen und protestieren, weil wir das für unverhältnismässig und nicht gerechtfertigt erachten. Ohne Marktzugangsabkommen würden die politischen Nadelstiche der EU noch zunehmen, deshalb ist diese Lösung eine Verbesserung im Vergleich zu heute.
Ist die Übernahme von EU-Recht im Sinne der Wirtschaft?
Es ist heute schon so, dass wir die meisten technischen Normen der EU übernehmen. Die Wirtschaft hat ein Interesse, dass die Normen in der Schweiz und im Binnenmarkt nicht weit auseinanderklaffen. Wir müssen aber nicht alles übernehmen, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Das Einzige, was passieren könnte, wären Massnahmen der EU.
Mit der Übernahme von technischen Normen haben wir kaum je ein Problem. Anders ist es mit politischen Fragen, sei es bei der Personenfreizügigkeit oder wie gegenwärtig beim Waffenrecht.
Gerade solche Probleme haben wir ja bei der verzögerten Anpassung der technischen Handelshemmnisse im letzten Jahr erlebt. Das ist doch der grosse Vorteil eines Abkommens, dass wir eine höhere Rechtssicherheit bekämen. Zudem könnten wir auch inskünftig über solche Anpassungen abstimmen. Wenn wir etwas nicht wollen und der Meinung sind, der Preis sei zu hoch, dann können wir das ablehnen.
Wir dürfen zwar darüber abstimmen, aber die EU droht mit Sanktionen. Man schickt uns sozusagen mit dem Messer am Hals an die Urnen.
Das haben wir heute genau gleich – mit dem Unterschied, dass wir nichts gegen solche Massnahmen der EU unternehmen können. Mit dem vorgeschlagenen Marktzugangsabkommen wird ein unabhängiges Schiedsgericht die Verhältnismässigkeit einer Massnahme überprüfen. Das ist ein Fortschritt gegenüber heute.
Besteht nicht die Gefahr, dass durch die Übernahme von EU-Recht die liberalen Rahmenbedingungen hierzulande und damit die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz verloren geht?
Ich sehe den Punkt. Vielleicht gibt es dann einmal einen Konflikt, weil wir eine Weiterentwicklung von EU-Recht aus diesem Grund nicht mitmachen wollen. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass die Schweizer Gesetzgebung im Sinne eines Swiss Finish teilweise sogar restriktiver ist als das EU-Recht.
Wieso reden Sie eigentlich vom Marktzugangsabkommen, wie wenn dieses Rahmenabkommen den Marktzugang bringen würde? Wir haben doch schon Marktzugang.
Die EU sagt, dass es ohne einen Rahmen keine weiteren Marktzugangsabkommen, beispielsweise im Strom- oder im Forschungsbereich, geben wird. Zugleich haben wir mehrfach erlebt, dass die EU uns politisch Nadelstiche versetzt hat und bestehende Abkommen nicht mehr aktualisiert hat. Das Risiko der Piesackerei ist eine Realität. Dieses Problem müssen wir lösen, damit wir weiterhin stabile Verhältnisse haben. Das ist bedeutungsvoll für die Unternehmen.
Und das Stromabkommen ist nötig?
Ja, und zwar aus zwei Gründen. Erstens brauchen wir Versorgungssicherheit. Zweitens brauchen wir auch morgen wettbewerbsfähige Strompreise für Schweizer Unternehmen. Dazu benötigen wir ein stabiles und grenzüberschreitend möglichst engpassfreies Höchstspannungsnetz. und einen diskriminierungsfreien Marktzugang. Das alles gibt es nur mit einem institutionellen Rahmen. Für uns ist allerdings wichtig, wie die Streitbeilegung genau aussieht.
Es muss also für Sie irgendeine Garantie geben, dass die «Piesackerei» wie Sie das nennen, nicht mehr möglich ist.
Genau. Es geht darum, eine höhere Rechtssicherheit zu erlangen und die politische Willkür zu eliminieren.
Das heisst Diskriminierungen, wie die bloss befristete Börsenäquivalenz, sollen nicht mehr vorkommen. Aber das ist doch gar kein Thema des vorgeschlagenen Rahmenabkommens.
Das ist korrekt. Die aktuellen Äquivalenzthemen sind im vorgeschlagenen Rahmen nicht eingebunden. Darum fordern wir, dass darüber parallel verhandelt wird. Ebenso über die Kohäsionsmilliarde. Die Schweiz sollte das zwar nicht miteinander verknüpfen, aber parallel verhandeln. Es kann ja nicht sein, dass Kanada, Hongkong und andere Finanzplätze die Börsenäquivalenz bekommen und wir nicht, obwohl wir die Voraussetzungen mindestens ebenso erfüllen.
Ist ein Rahmenabkommen nur akzeptabel, wenn es eine Garantie gibt, dass die Schweiz nicht weiter diskriminiert wird?
Ja. Darum braucht es parallele Verhandlungen, ohne eine Verknüpfung. Was bei den Verhandlungen helfen kann, muss parallel auf den Tisch. Es kann sein, dass die Verhandlungen deshalb länger gehen. Wir dürfen nicht sagen, dass wir trotzdem einverstanden sind, auch wenn wir zum Beispiel bei der Börsenäquivalenz kein Zugeständnis erhalten. Hallo? Wer sind wir denn?
«Wenn wir der Meinung sind, der Preis sei zu hoch, dann können wir das ablehnen.»
Sollen wir die Kohäsionsmilliarde beschliessen, bevor wir von der EU etwas erhalten, zum Beispiel die endgültige Anerkennung der Äquivalenz bei der Finanzmarktgesetzgebung?
Nein, darüber sollte der Bundesrat unter Würdigung der Verhandlungsresultate entscheiden. Wir sollten nicht jetzt schon unsere Karten auf den Tisch legen. Wir wissen ja nicht, was in den nächsten Monaten geschehen wird und ob wir überhaupt ein Verhandlungsresultat haben werden.
Der Bundesrat will die flankierenden Massnahmen ausdrücklich aus dem Verhältnis zur EU ausnehmen, damit sie nicht vor dem EU-Gerichtshof angefochten werden können. Das ist ein Zugeständnis gegenüber links. Finden Sie das gut?
Ja, das war damals eine innenpolitisch notwendige Konzession, hinter der wir auch heute noch stehen.
Müsste man, um ein mehrheitsfähiges Abkommen zu bekommen, nicht auch ein Zugeständnis gegenüber rechts anstreben? CVP-Präsident Gerhard Pfister hat gefordert, dass es die EU aus Respekt vor der politischen Kultur der Schweiz akzeptieren müsste, wenn die Schweiz bei der Übernahme von EU-Recht in einem Referendum Nein sagt.
Ich weiss nicht, was der Bundesrat alles diskutiert, aber ein neues Element müssten wir im Prinzip anschauen. Die Schweiz bleibt aber aufgrund der Referendumsmöglichkeit bei neuen Abkommen sowieso ein souveräner Staat.
Wir müssen sowieso alles übernehmen, sonst gibt es Sanktionen, eben weitere «Piesackerei».
Aber heute können wir uns nicht dagegen wehren. Mit einem solchen Abkommen, können wir von einem Schiedsgericht die Angemessenheit überprüfen lassen. Das Schiedsgericht wäre also ganz klar ein Mehrwert.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch