«Es gibt in unserem Land einen heimlichen Konsens»
Die Debatten in der Schweiz hören sich an wie Krisenbeschwörungen. Jammern auf Weltklasseniveau? «Nein», schreibt Bundesrat Alain Berset in einem Gastbeitrag. Es steckt viel mehr dahinter.

Unsere Lage ist paradox: Unsere Wirtschaft ist bisher sehr gut durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen, dem Land geht es blendend. Trotzdem hören sich unsere Debatten an wie Krisenbeschwörungen.
Wie ist dieses Paradox zu verstehen? Ist es einfach Jammern auf Weltklasseniveau? Sind es die bösen Medien, die alles verzerren? Nein, ich glaube, es steckt mehr dahinter. Es gibt in unserem Land einen heimlichen Konsens. Einen Konsens, zu dem sich niemand richtig zu stehen getraut. Denn das eigene Lager erwartet klare Fronten.
Der heimliche Konsens lautet: Die politische Stabilität ist unser eigentlicher USP – unsere Unique Selling Proposition in einem internationalen Umfeld, das von grosser Unsicherheit geprägt ist. Auf diesem soliden Pfeiler ruht letztlich auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Schweiz.
Die Sicherheitsrevolution
Ich bin jedoch überzeugt: Wer die Schweiz nur als Wirtschaftsstandort begreift, wird diesen Standort unweigerlich schwächen. Um Margaret Thatcher leicht verfälscht zu zitieren: There is such a thing as society.
Ich kann mein Argument ein wenig zuspitzen. Die Wertschöpfungskette hat ein wichtiges, aber oft übersehenes Glied: den Sozialstaat. Der Auf- und Ausbau des Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg war eine «Sicherheitsrevolution» – mehr als eine soziale Revolution, wie der kürzlich verstorbene Historiker Tony Judt geschrieben hat. Diesen Zusammenhang hat die neoliberale Kritik am Sozialstaat nie verstanden. Der Sicherheitsrevolution zugrunde lag die Erinnerung an die 30er-Jahre, den Faschismus, den Weltkrieg. «Nie wieder»: Dieses Motto hat nicht nur zur Gründung der EU geführt, sondern auch zum Ausbau des Sozialstaates.
Das Sicherheitsbedürfnis ist heute in der Bevölkerung nicht weniger stark verbreitet. Die internationale Arbeitsteilung führt zwar zu grossen Wohlstandsgewinnen, vor allem in den aufstrebenden Ländern – doch sie führt auch zu tief greifenden strukturellen Veränderungen. Sie setzt viele Arbeitnehmende unter Druck.
Eine starke Integrationskraft trotz hohem Ausländeranteil
Ich habe es erwähnt: Der Schweiz geht es sehr gut. Wir gehören zu den klaren Gewinnern der Globalisierung. Die Schweizer Wirtschaft hat sich als noch leistungsfähiger und krisenresistenter erwiesen, als wir alle gedacht haben. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Arbeitgeber. Selbstverständlich gebührt das Lob aber ebenso den Arbeitnehmenden: ihrem Leistungsethos, ihrem Engagement, ihrem Qualitätsbewusstsein, ihrer Loyalität. Deshalb bedaure ich es immer ein wenig, dass im Zusammenhang mit dem Standort Schweiz häufig vor allem von Steuern und Regulierungen die Rede ist. Ein Standort ist viel mehr: Er ist die weiche Infrastruktur eines Landes.
Der Standort Schweiz ist ein fein austariertes System, dessen Grundlage unsere politische Kultur ist: der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Gewaltenteilung, Sozialpartnerschaft und Rechtssicherheit. Aber auch: Innovationskraft, Sicherheit im Alltag, der traditionelle Arbeitsfrieden. Und nicht zuletzt: die Integrationskraft. Diese ist in der Schweiz stärker als in anderen Ländern. Trotz eines der höchsten Ausländeranteile der Welt.
Wer Steuern zahlt, ist nicht dumm, sondern schlau
Die Schweiz versteht es wie kaum ein anderes Land, eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt zu finden und zu halten – das ist die wahre helvetische Zauberformel. Im Sinne dieser Balance müssen wir auch unsere Sozialversicherungen an veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten anpassen. Wer diese reformieren will, muss ausgewogene Lösungen präsentieren. Ich erinnere nur an den 7. März 2010, als die Senkung des Umwandlungssatzes von einer überwältigenden Mehrheit des Volkes abgelehnt wurde.
Das Sozialversicherungssystem konstituiert sich auch in den Köpfen der Menschen. Daher ist es beunruhigend, wenn immer mehr Junge nicht mehr daran glauben, dass sie das einbezahlte Geld eines Tages zurückerhalten. Dieser schleichende Vertrauensverlust ist gefährlicher für unsere Gesellschaft als manches, was die politische und mediale Alltagsagenda dominiert.
Viel ist heute in Wirtschaftskreisen die Rede von Corporate Social Responsibility. Ich sage: Die wichtigste Form von CSR ist die Einsicht, dass Märkte und Unternehmen die Voraussetzungen ihres Funktionierens nicht selber schaffen können. Wer Steuern zahlt, ist also nicht dumm, sondern schlau. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass ein ehemaliger Chef der UBS die Milliardenzusage des Bundes zur Rettung dieser Bank heute als unnötig empfindet, dann gerate ich schon ein wenig ins Grübeln.
Sozialstaat in der Defensive
Machen wir uns keine Illusionen: In vielen Ländern Europas wird in den nächsten Jahren eine Debatte um das Ende des Sozialstaates losbrechen. Die Schuldenkrise und der demografische Wandel bestärken jene, die der Überzeugung sind, dass sich das 21. Jahrhundert einen Sozialstaat nicht mehr wird leisten können.
Der Sozialstaat ist in der Defensive. Dabei zeigt ein Blick auf die dynamischste Weltregion: Der Sozialstaat hat sich keinesfalls überlebt. Dem Sozialstaat gehört das 21. Jahrhundert. Ausgerechnet China, der gerade in Wirtschaftskreisen viel gelobte Motor der Weltwirtschaft, schickt sich seit einiger Zeit an, einen Sozialstaat zu etablieren – als Reaktion auf das wachsende Potenzial sozialer Unruhen, aber auch, um die Binnennachfrage zu stärken und das Land so weniger exportabhängig zu machen.
In der Globalisierung erfolgreich
Dass wir in der Globalisierung erfolgreich sind, haben wir bewiesen. Dass wir in der Globalisierung den schweizerischen Kernwert der Solidarität weiterhin hochhalten können – das zu beweisen, sind wir alle zusammen aufgerufen. In den Schwellenländern arbeiten immer besser qualifizierte Menschen zu immer noch vergleichsweise sehr tiefen Löhnen; der Druck auch auf Arbeitnehmende hierzulande wird also tendenziell zunehmen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir alle – Politik, Arbeitgeber und Arbeitnehmer – weiterhin darum bemüht sind, Markt und Gesellschaft in einem Gleichgewicht zu halten. Konkret: Wenn wir die kulturelle Offenheit der Schweiz und insbesondere die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit erhalten wollen, dann müssen wir gemeinsam soziale Ungleichheiten bekämpfen. Dann müssen wir gemeinsam Missbräuchen entgegentreten, wie es jetzt bei der Verschärfung der flankierenden Massnahmen geschehen ist. Auch sind wir aufgerufen, gemeinsam eine Bildungspolitik zu unterstützen, die der hiesigen Bevölkerung eine möglichst gute Chance gibt, in einem europaweit offenen Arbeitsmarkt mitzuhalten.
Ebenso sind Politik und Wirtschaft aufeinander angewiesen, wenn es darum geht, ältere Arbeitnehmer im Arbeitsmarkt zu behalten. Die Forderung nach einem höheren Rentenalter muss begleitet werden durch einen Arbeitsmarkt, der auch über 50-Jährigen eine Chance gibt. Dass reifere Altersgruppen weniger leistungsfähig sind, ist ein Vorurteil, das in einer alternden Gesellschaft zum gefährlichen Mythos wird.
7. März als doppelte Mahnung
Zudem muss die Vereinbarkeit von Beruf und Familie so gestaltet sein, dass die Frauen, die bekanntlich die Männer in vielen Bereichen akademisch überholt haben, ihr Wissen auch wirklich in den Arbeitsprozess einbringen können.
Ich habe vorhin den 7. März 2010 erwähnt – den Tag, als die Senkung des Umwandlungssatzes spektakulär durchfiel. Der 7. März hat noch eine andere Bedeutung. Genau bis zum 7. März jedes Jahres müssen die Frauen arbeiten, um jenen Lohn zu erhalten, den die Männer für die gleiche Arbeit bereits am 31. Dezember des Vorjahres auf ihrem Konto haben. Denn die Frauen verdienen in der Schweiz immer noch durchschnittlich 18,4 Prozent weniger für die gleiche Arbeit. Das ist eine Ungerechtigkeit, die wir beseitigen müssen.
So dient uns der 7. März als doppelte Mahnung, dass wir die Arbeitnehmenden auch in ihrer Rolle als Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen müssen. Wenn Wirtschaft und Gesellschaft auseinanderdriften, schwächt das am Ende beide.
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