Wochenduell: Leiden auf zwei RädernErlebt der Radsport einen Boom?
Giro, Dauphiné, Tour de Suisse – und bald die Frankreich-Rundfahrt: Der Radsport-Kalender ist vollgepackt mit Rennen und Events. Den Zuschauern scheint es zu gefallen.

Pro: Schmerzen, Emotionen und Überraschungssieger – das sind die Gründe, warum das Interesse in den letzten Jahren wieder gestiegen ist.
Bisher war es eine nicht allzu freundliche Saison für die Radprofis. Beim Giro d’Italia, bei der Tour de Romandie und auch bei der Dauphiné schüttete es oft auf wie aus Kübeln, der Wind bliess die dürren Fahrer fast von ihren Hightechmaschinen – und daneben hatten die Athleten die übliche Tortur von unendlichen Kilometern, grausamen Anstiegen und rasanten Abfahrten zu bewältigen.
Das Leid der Fahrer auf dem Rad ist die Freude der Zuschauer vor dem Bildschirm. Nach einem zuletzt emotionslosen halben Jahrzehnt ist der Sport wieder menschlicher geworden, irgendwie nahbarer, auch wenn die Leistungen der Mutanten auf zwei Rädern immer noch unfassbar scheinen. Bolzten bis 2017 meist die Watt-Roboter vom Team Sky (heute Ineos Grenadiers) vorn Tempo und verhinderten so Aussenseitersiege und Emotionen, wurde der Profiradsport in den letzten Jahren wieder aufregender. 2020 gewann Tadej Pogacar (UAE Emirates) die Tour de France, Primoz Roglic (Jumbo-Visma) die Vuelta, den Giro-Sieg dieses Jahr sicherte sich Egan Bernal (Ineos).
Die Dichte an der Spitze ist grösser geworden. Die einwöchige Dauphiné wurde vergangenen Sonntag erst auf den letzten Metern entschieden. Der Kolumbianer Egan Bernal rettete beim Giro nicht einmal eineinhalb Minuten Vorsprung über Ziellinie. Und bei der Tour de France 2020 kam es zu einem der dramatischsten Entscheidungen der Radsport-Geschichte: Der Slowene Pogacar löste Landsmann Roglic erst beim abschliessenden Zeitfahren an der Spitze des Klassements ab. Bei der Tour de Suisse, die diese Woche durch das Land zieht, umfasst das erweiterte Favoritenfeld mehr als zehn Fahrer.
Enge Entscheidungen, heroische Siegfahrten, gnadenlose Einbrüche – das wollen die Zuschauer sehen. Dass der Radrennsport spannender geworden ist, zeigt sich eindrücklich an den Zuschauerzahlen: Bei der ARD stiegen die Einschaltquoten der Tour de France von 2015 bis 2018 um fast 30 Prozent. Und auch zuletzt gabs noch mal einen kleinen Boost, Sportkoordinator Axel Balkausky redet von einem «kontinuierlich anwachsenden Interesse» der Zuschauer. Gleiches zeigt sich auch bei Eurosport.
Offizielle Zahlen liegen vom Schweizer Fernsehen nicht vor. Doch Roland Mägerle, Sport-Chef bei SRF, sagte 2019 in einem Interview mit «Watson»: «Der Radsport ist in der Schweiz wieder im Aufschwung und beim Fernsehpublikum beliebt. Die Entwicklung erachte ich als sehr positiv.»
Gerade der Boom in der Schweizer Radsport-Szene überrascht nicht. Nach erfolglosen Jahren und dem Rücktritt von Fabian Cancellara drängen talentierte Fahrer in die Weltspitze vor. Zeitfahrspezialist Stefan Küng erstrampelte sich am ersten Tag bei der Tour de Suisse das Gelbe Trikot. Simon Pellaud gewann bei der Italien-Rundfahrt die inoffizielle Fuga-Wertung – der Walliser sammelte in Fluchtgruppen am meisten Kilometer an der Spitze des Rennens. Und natürlich ist da Marc Hirschi, dem ein ganz grosser Sieg bei den grossen Rundfahrten zugetraut wird. Die Chancen, dass der Boom noch ein wenig weitergeht, stehen gerade in der Schweiz ganz gut. Tobias Müller
Contra: Die Dopingproblematik wirkt immer noch nach. Darum schalten nur Rad-Aficionados ein, wenn sich die Besten die Berge hochquälen.
Radfahren per se boomt. Schon vor Corona. Und noch mehr in der Pandemie. Es gab in den vergangenen bald eineinhalb Jahren nicht mehr viele Freizeitbeschäftigungen, denen man uneingeschränkt nachgehen konnte. Sich aufs Velo schwingen, die Landstrassen beradeln und Pässe erklimmen jedoch, das ging nach wie vor. Jedenfalls überall dort, wo nie eine Ausgangssperre verhängt wurde.
Es überrascht aber auch nicht, dass der professionelle Radsport schon vor Corona einen Anstieg des Interesses verzeichnete. Jedenfalls dann, wenn es um die Einschaltquoten an den Bildschirmen geht. Nur: Es wäre verfehlt, deshalb bereits zu behaupten, dass Radrennen wieder «en vogue» wären. Vielmehr ist es so, dass hier eine Sparte leicht steigende Tendenz verzeichnet, die zuvor wie keine andere grosse Sportart eine Implosion und einen Absturz erlebte. Weil sie wie keine andere Sportart Schlagzeilen in jenem Bereich schrieb, in dem sich das niemand wünscht: Doping.
Es verschwanden: grosse TV-Anstalten; grosse Sponsoren; und auch Rennen, wenn auch eher in der kleineren Kategorie. Oder anders gesagt: das Interesse eines breiten Sport-Publikums. Nur ein Teil davon ist zurückgekehrt. Das ist nicht einfach die Schuld dieses Sports. Es liegt womöglich auch daran, dass nirgends sonst von aussen und innen derart intensiv nach Dopingsündern gefahndet wurde. Und daran, dass andere Weltverbände ihren eigenen Sport konsequenter schützen (konnten): Liegt es eher an der Sauberkeit des Milliardengeschäfts Fussball oder an der Macht der Fifa, dass der letzte offizielle Dopingfall an einer WM auf 1994 und Diego Maradona zurückgeht?
Nur: Wenn mit einiger Verspätung Lance Armstrong alle sieben Tour-de-France-Triumphe aberkannt werden müssen, dann schadet das dem Sport ebenso, wie wenn man weiss, wer von den anderen Gesamtsiegern des bedeutendsten Radsport-Rennens überhaupt irgendwann mal überführt wurde oder später Doping gestand: Ullrich, Contador, Pantani, Riis, Landis – und auch Indurain oder Delgado. Dazu eine ganze Reihe anderer grosser Namen, die regelmässig in die Spitzenränge fuhren.
Sie alle wurden nicht primär deswegen zu Figuren, die jedem Sport-Interessierten ein Begriff waren und in den meisten Fällen noch sind. Sondern weil der Radsport damals noch richtig gross war. Heute ist das anders und kennen nur noch Rad-Aficionados die Besten. Das Doping wirkt nach. Oder wissen Sie, wer die letzten drei Austragungen der Tour de France gewann? Oliver Gut
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Werden die Starwings auch in Zukunft Titelanwärter sein?Hängt uns der Fussball bald zum Hals heraus?Braucht die Super League den FC Sion?Ist Basel noch eine Sportstadt?
Tobias Müller schrieb seinen ersten Artikel für die Basler Zeitung im Jahr 2011 und ist seit 2018 als redaktioneller Mitarbeiter tätig. Er beschäftigt sich vor allem mit Themen aus der Leichtathletik, dem Fussball sowie dem Freizeitsport.
Mehr InfosOliver Gut schreibt seit März 2000 für das Sport-Ressort der Basler Zeitung, das er seit 2019 leitet. Vorher für diverse Sportarten zuständig, konzentriert sich der Fricktaler seit 2011 auf den Fussball – und damit hauptsächlich auf den FC Basel.
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