Erinnerungen in 3-D
Angela Joerg hat 1,5 Millionen 3-D-Karten geerbt – mit Motiven wie Jesus, Mickey oder nackten Frauen. Von Zürich aus hatte ihr Grossonkel damit Europa erobert. Die Geschichte von Robert Cantieni, Teil II.
Von Monica Müller Robert Cantieni war ein Charmebolzen, ein Chrampfer, ein Rebell. Seine Grossnichte und seine Nichte sitzen im Wohnzimmer und erinnern sich an Röbi. Vor ihnen liegen Dutzende 3-D-Postkarten. Eine Frau, die sich im luftigen Dessous auf dem Bett räkelt. Bewegt man die Karte, ist sie nackt. Jesus blickt entrückt in die Weite, faltet die Hände zum Gebet; kippt man die Karte, neigt er den Kopf. Donald schaut TV, ein Indianer spannt seinen Pfeilbogen, kippt man die Karte, trifft der Pfeil Donald auf dem Sofa. «Diese Karten – das war Röbi.» Angela Joerg, die Grossnichte, zeigt einen Skipass von Röbi aus dem Jahr 1966. Da war er genau 40 Jahre alt. Ein kantiger, attraktiver Mann.«Er hatte immer Sehnsucht nach der Heide und daheim», erzählt seine Nichte. Am Wochenende fuhr er oft mit dem Jaguar von Zürich auf die Lenzerheide, er war stets gut gekleidet, ein Lebemann. Er hatte sechs Geschwister, aber nahe stand er keinem von ihnen. Sie waren Bauer, Schreiner, Koch, Hausfrau, Wegmacher, Polizist geworden. Die Arbeit der Handwerker respektierte er, der Polizist war in seinen Augen, wie jeder Beamte, ein Faulpelz. Schon als 6-Jähriger hielt Röbi, der Jüngste, nicht mit seiner Meinung zurück. Er fand es falsch, dass der Vater auf dem Hof einen Knecht beschäftigte, und rechnete ihm vor, dass Kosten und Nutzen nicht stimmten. Mit 16 Jahren zog er nach Chur, um Drucker zu werden. Nach der Lehre lebte er in Zürich und betrieb seine erste kleine Druckerei. Er arbeitete rund um die Uhr, die Aufträge nahmen zu, bald hatte er eine Offsetdruckerei und ein eigenes Haus. «Kitsch» als Beleidigung In den 70er-Jahren stieg Robert Cantieni ins Geschäft mit den 3-D-Postkarten und 3-D-Bildern ein. Über die Jahre sammelte er 800 Sujets. Ausser den Heiligen- und den Disney-Figuren liess er alle Fotos selbst schiessen. Gedruckt wurden sie in Japan. Seine Erbinnen sind sich nicht sicher, ob er die Technik entwickelte, auf jeden Fall habe er in Europa zu den Pionieren gehört. Vor allem in Italien und in der Ukraine fanden seine Heiligenbilder, Päpste, Akte und Landschaftsidyllen reissenden Absatz. Cantieni besuchte Messen in ganz Europa, pflegte seine Kunden. Nachts lernte er Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Russisch, um mit den Kunden in ihrer Sprache verhandeln zu können. Nannte jemand seine Karten Kitsch, war es aus mit der Geschäftsbeziehung. Denn das empfand er als Beleidigung. Abrechnung auf der Postkarte Zu Weihnachten verschickte Cantieni Verwandten und Bekannten jeweils seine Karten – mit Schreibmaschine getippt, wie sich das für ihn so gehörte. Röbi wünschte frohe Weihnachten und rechnete mit dem Adressaten gleich noch ab. Manchmal war er auch sanft gestimmt und schrieb: «Frohe Festtage und mach jetzt endlich mal Pause!» Direkt war er, gradlinig und knallhart im Urteil. War ein Kunde ein Chrampfer, der Pech im Leben hatte, zahlte er für eine Karte 16 Rappen. Einem Kunden, den Cantieni als Profiteur sah, verrechnete er das Zehnfache. Robert Cantieni hatte stets Prozesse am Hals: weil er Bildrechte verletzte. Weil jemand seine Bilder unrechtmässig verwendete. Weil ein Kunde seine Rechnungen zu spät beglich. Weil Cantieni seinen Jaguar stets irgendwo parkierte und sich dann weigerte, die Bussen zu zahlen, weil er damit die «absurde Bürokratie» nicht finanzieren wollte. Er war ein Patron alter Schule, der viel von seinen Angestellten forderte, sich aber auch fürsorglich für sie einsetzte. Mit 75 Jahren verkaufte Cantieni seine Druckerei, die bereits produzierten 3-D-Postkarten lagerte er in einem Raum in Deutschland, wo er einige Jahre lebte, und in seinem Keller in Uitikon. Im vergangenen Sommer starb Cantieni, 85-jährig. Seine 1,5 Millionen Karten und Bilder vermachte er seiner Grossnichte Angela Joerg und ihrer Mutter. Kein einfaches Erbe. «Es stellt sich für mich die Frage: Was mache ich für Röbi, was für uns?», sagt Joerg. Passt auch ein anderer Jesus? Die Karten vernichten? Für Joerg unmöglich, zu wichtig waren sie Röbi, zu nahe stand er ihr. Doch die Lagerkosten sind hoch, der Verkauf aufwendig. Manche Kunden bestellen 6000 Karten, andere nur eine. Gewisse beliebte Sujets sind am Ausgehen, und so müsse man die Kunden stets fragen, ob ihnen auch ein anderer Jesus passe. Ob sie statt Winnie the Pooh auch Lion King nähmen. Zudem wäre es nötig, die Kunden zu pflegen, sich an Messen zu vernetzen, neue Märkte zu erobern. «Die Karten sind mir wichtig, aber sie sind nicht mein Leben.» Ihr Grossonkel war sich sicher, dass die neuen Medien den Postkarten-Markt ausgetrocknet haben. Angela Joerg indes glaubt, dass Röbis Karten auch heute Abnehmer finden, gerade bei den Jungen: «Kitsch ist hip.» Sie habe am Montagsmarkt im Rimini einmal 3-D-Postkarten verkauft, das Interesse sei riesig gewesen. Als sie ihrem Grossonkel davon erzählte und erklärte, Kitsch sei heute im Trend, fühlte er sich betupft. «In seinen Augen waren die Karten nicht kitschig. Sie waren einfach nur schön.» Angela Joerg mit einem kleinen Teil ihres Erbes. «Diese Karten – das war Röbi.» Foto: Sabina Bobst Robert Cantieni.
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