Erdogans Rache in Zahlen
In der Türkei haben die Prozesse gegen ausländische Journalisten begonnen. Und täglich steigt die Zahl der Verhafteten.
Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 geht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan massiv gegen regierungskritische Journalisten vor. Mindestens 187 Medienkanäle wurden inzwischen geschlossen, darunter Zeitungen, Radio- und TV-Stationen. Anderen wurde die Lizenz entzogen. Zudem liess die Regierung Hunderte Pressevertreter verhaften.
Vorwurf: Unterstützung und Propaganda von Terror
Fast 170 Journalisten sitzen immer noch in türkischer Haft. «Zeit Online» hat eine Liste mit allen Namen und dem Grund der Inhaftierung erstellt. 18 von ihnen wird Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Dazu gehört auch die deutsche Journalistin Mesale Tolu. Sie hat die Vorwürfe vor einem Gericht zurückgewiesen: «Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch», sagte die 32-Jährige diese Woche am ersten Verhandlungstag. «Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen.»
Tolu drohen nach Angaben ihrer Anwältin bis zu 20 Jahre Haft. Neben ihr sitzen zahlreiche weitere Deutsche in der Türkei in Haft, darunter der Menschenrechtler Peter Steudtner. Die türkische Staatsanwaltschaft will ihn bis zu 15 Jahre lang einsperren, weil er im Juli einen Workshop türkischer Menschenrechtler in Istanbul begleitet hatte und deshalb der Terrorunterstützung beschuldigt wird.
Am meisten Aufregung hat die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel erzeugt, einem Korrespondenten der Zeitung «Welt». Sie belastet sogar das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei, weil sich auch Angela Merkel einschaltete. Yücel sitzt bereits seit 224 Tagen oder mehr als sieben Monaten wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Erdogan beschuldigte ihn öffentlich, ein deutscher «Agent» zu sein. Bis heute gibt es keine Anklageschrift, es fand keine Gerichtsverhandlung statt. Und eine Untersuchungshaft in der Türkei kann wegen des geltenden Ausnahmezustands bis zu fünf Jahre dauern.
«Eine Normalisierung des Verhältnisses zur Türkei kann es nicht geben, ohne dass die deutschen Geiseln in Freiheit kommen.»
Die Bundesregierung verlangt die Freilassung Tolus, Steudtners, Yücels und von acht weiteren Deutschen, die derzeit in der Türkei aus politischen Gründen inhaftiert sind. «Wir fordern ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Vor allem muss es jetzt schnell gehen, damit Mesale Tolu möglichst bald freikommt», sagte Bundesaussenminister Sigmar Gabriel. Tolus Vater zeigte sich vor Prozessbeginn hingegen enttäuscht von der Bundesregierung. Er habe sich mehr Einsatz für seine Tochter erhofft.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist aufgrund der anstehenden Prozesse gegen die angeklagten Journalisten stark angespannt. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte ein Einlenken der Regierung in Istanbul. «Eine Normalisierung des Verhältnisses zur Türkei kann es nicht geben, ohne dass die deutschen Geiseln in Freiheit kommen», sagte er der «Schwäbischen Zeitung».
Dass sich Erdogan dem Druck beugen wird, ist unwahrscheinlich. Ein Interview des türkischen Aussenministers und Erdogan-Vertrauten Mevlüt Cavusoglu mit dem «Spiegel» zeigte vor kurzem, dass die türkische Politik vor allem durch Rache bestimmt ist. «Die Auftrittsverbote gegen türkische Regierungspolitiker in Deutschland haben uns missfallen», sagte Cavusoglu. Deutschland habe sich beim Verfassungsreferendum in die Angelegenheiten der Türkei eingemischt.
Der Präsident sieht derweil keinen Grund, von seinem Kurs abzukommen. Seit dem Putschversuch vor gut einem Jahr hat Erdogan die Pressefreiheit in seinem Land stark eingeschränkt. Und die Journalisten sind nur eine von vielen Berufsgruppen, die in sein Visier geraten sind. Die Welle an Verhaftungen scheint kein Ende zu nehmen.
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Massenverhaftungen sind in der Türkei an der Tagesordnung. Erdogan verlängerte den Ausnahmezustand im Land, der die Voraussetzungen dafür schafft, im vergangenen Juli zum vierten Mal. Er selbst bezeichnete das Vorgehen als «Säuberungsprozess». Alle, die vermeintlich zur Opposition gehören oder mit dem Putsch in Verbindung stehen, werden in «Anti-Terror-Ermittlungen» aus dem Weg geräumt.
Welches Ausmass die Säuberungsaktion mittlerweile angenommen hat, zeigen junge türkische Journalisten auf ihrer Internetseite «Turkey Purge». Sie stehen dem Vorgehen der türkischen Regierung kritisch gegenüber, beziehen ihre Daten aber in erster Linie von den offiziellen Behörden. Die Zahlen, die sie präsentieren, gehen in die Hunderttausende.
So hat die türkische Regierung seit dem 15. Juli 2016 fast 128'000 Verdächtige festgenommen, um gegen sie zu ermitteln. Rund 60'000 Personen, also fast die Hälfte, wurden daraufhin inhaftiert. In verschiedenen Medien sind diese Zahlen teilweise noch höher – und sie steigen täglich.
Erdogan räumt gnadenlos auf: Er liess über 2000 Schulen und Universitäten schliessen, mehr als 4400 Richter ersetzen und veranlasste unzählige Massenentlassungen. In den letzten eineinviertel Jahren wurden über 146'000 Personen ihres Amtes enthoben, viele davon waren Lehrer und Akademiker.
Zu den zahlreichen Entlassenen gehören auch viele Angehörige der türkischen Armee, Polizisten, Richter und andere Beamte aus dem Staatsapparat. Doch für Kritik aus dem Ausland sorgen in erster Linie die vielen Inhaftierten, die oft ohne konkrete Anklage festgehalten werden.
Laut «Human Rights Watch» werden in der Türkei ausserdem Menschen in Polizeigewahrsam gefoltert, denen Terroraktivitäten oder eine Verbindung zum Putschversuch 2016 vorgeworfen wird. Zu diesem Schluss kommt die Menschenrechtsorganisation in ihrem 43-seitigen Bericht «In Custody: Police Torture and Abductions in Turkey», der gestern veröffentlicht wurde. Es gebe immer mehr Beweise dafür, dass es in Gefängnissen zu massiven Menschenrechtsverletzungen komme, schreibt «Human Rights Watch».
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