Erdogans «Bruder» wägt Chancen ab
Panik in Ankara wegen möglicher Präsidentenkandidatur des Ex-Staatschefs Abdullah Gül.

Er ist der Geisterkandidat, der in Ankara alle beschäftigt: Abdullah Gül könnte bei den vorgezogenen Wahlen in der Türkei am 24. Juni gegen den amtierenden Staatschef antreten. Die Aussicht allein sorgt für Furore im Präsidentenpalast und bei der Opposition. Schliesslich war Gül lange die Nummer zwei neben Tayyip Erdogan, dem heute autoritär regierenden Präsidenten des Landes. «Mein Bruder», nannte er ihn. Diese Zeiten sind vorbei.
Gül schweigt, aber sondiert. Doch der 67-Jährige, der selbst einmal Staatspräsident zwischen 2007 und 2014 war, will sicher sein, dass er mit breiter Unterstützung in eine solche Schlacht gegen Erdogan zieht.
Mit dem früheren Regierungschef und Aussenminister Ahmet Davutoglu, einem anderen von Erdogan gebrannten Parteifreund, traf sich Gül zu Wochenbeginn in Ankara. In Istanbul hat der pensionierte Staatsmann Gül verdächtigerweise neue Bürozimmer angemietet. Den Vorsitzenden der islamistischen Saadet-Partei, der Partei der Glückseligkeit, empfing er dort am Mittwoch. Temel Karamolluoglu kam als Emissär aus der Hauptstadt. Der Chef der grössten Oppositionspartei, der säkularen sozialdemokratischen CHP, hatte ihn losgeschickt, um Güls Absichten auszuloten. Die türkische Politik erlebt nie gesehene Tage der Verständigung über die Parteilager hinweg.
Kritik an autoritärem Kurs
Die Opposition, so schwach sie auch sein mag, stellt sich gegen den mächtigen Präsidenten auf. Alle wollen sie Erdogan verhindern. Die Parlaments- und Präsidentenwahl in zwei Monaten gilt vielen als letzte Chance, die Türkei noch vom Abgrund der Diktatur wegzubugsieren. Denn mit dieser Wahl tritt der Wechsel von der parlamentarischen Demokratie zu Erdogans Präsidialregime offiziell in Kraft.
Abdullah Gül hat in den vergangenen Monaten mehrfach den autoritären Kurs seines früheren Weggefährten Erdogan kritisiert. Auf der Webseite der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP ist Gül schon aus der Fotogalerie der Mitbegründer gelöscht worden. Nun wird er direkt von seinen ehemaligen Parteifreunden angepatzt. Die Gülen-Terroristen wollten doch Güls Kandidatur, so erklärte gestern ein führender Parlamentarier der AKP, der ehemalige Staatsanwalt Resat Petek. Das Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen macht die Regierung für den Putsch im Sommer 2016 verantwortlich. Jetzt rückt sie gar den früheren Präsidenten, Regierungschef und Aussenminister in die Nähe des Predigers. Denn ein Duell der «Brüder» Gül und Erdogan macht ihr Angst.
«Unser Volk ist gegen eine solche Zerteilung und Umwandlung», versicherte Erdogans Regierungschef Binali Yildirim. Politische Beobachter und manche Parteistrategen in Ankara glauben genau das Gegenteil. Der stets freundliche, auf Ausgleich bedachte Gül sei der Einzige, der Wähler aus allen Lagern in der Türkei gegen Erdogan sammelt, heisst es: fromme Konservative wie Nationalisten, säkulare Türken ebenso wie die Kurden. Tatsächlich kündigte auch der Sprecher der prokurdischen HDP an, die Partei werde Gül in einer Stichwahl gegen Erdogan unterstützen. Für die erste Runde nominiert die HDP gleichwohl ihren inhaftierten früheren Parteichef Selahattin Demirtas.
Herausforderin Meral Aksener
Eine treibende Kraft der Gül-Kandidatur ist der Chef der sozialdemokratischen Opposition, Kemal Kiliçdaroglu. Seine Partei hatte 2007 noch Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um die Wahl des ersten islamistischen Politikers als Präsidenten zu verhindern. «Wir sind zu Opfern bereit», sagt Kiliçdaroglu jetzt. Der Sozialdemokrat liess am vergangenen Wochenende auch 15 Abgeordnete seiner Fraktion zur neuen Rechtspartei wechseln, der Iyi Partisi oder Guten Partei der früheren Innenministerin Meral Aksener. Damit konnte die Gute Partei eine eigene Fraktion bilden und wurde – sehr zum Ärger Erdogans – zur Parlamentswahl zugelassen. Die Sozialdemokraten, die neuen Rechten, die Islamisten von Saadet, vielleicht auch die Kurden werden mit einer gemeinsamen Liste für die Parlamentswahl antreten. Die kleinen Parteien müssen so nicht mehr die Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament fürchten.
Aksener hat sich aber auch als Präsidentschaftskandidatin erklärt. Sie wird weiterhin als chancenreiche Herausforderin Erdogans gesehen, wenn auch weniger parteiübergreifend als Gül. Statt als gemeinsamer Kandidat der gesamten Opposition würde Gül deshalb als parteiloser unabhängiger Kandidat antreten müssen. Güls grösstes Hindernis ist dabei wohl er selbst. Er gilt als Zauderer. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr für die Entscheidung über eine Kandidatur. Bis zum Ende dieser Woche muss sich der fromme «Bruder» bekennen. Der Fahrplan zur Wahl will es so.
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