«Er war betrunken und hatte eine Waffe»
Amoklauf in einem Kino, Massaker in einer Grundschule: In den USA sterben täglich rund 24 Menschen durch Waffengewalt. Nicht jeder Fall macht nationale Schlagzeilen. Ein Beispiel aus dem Staat Maryland.

Florena Carters Schicksal machte keine nationalen Schlagzeilen. Ihr Sohn starb 2009 durch eine Kugel, an seinem 28. Geburtstag. Carters Bruder war der Schütze. Ihr Vater beging wenig später Selbstmord, er erschoss sich selbst. Die schreckliche Familientragödie ist ein Beispiel unter vielen für die Waffengewalt, die Amerika plagt, tagtäglich - ohne jene Aufmerksamkeit, die das Massaker in einer US-Grundschule im Dezember erregte oder der tödliche Amoklauf in einem Kino im Juli vergangenen Jahres.
Die beiden Blutbäder lösten eine heftige Debatte über eine landesweite Verschärfung von Waffengesetzen aus. Am Ende wurde daraus nichts, US-Präsident Barack Obama konnte keines seiner Vorhaben im Kongress durchsetzen, weder einer Verbot von Sturmgewehren an Privatleute noch striktere Überprüfungen von Waffenkäufern.
19'400 Suizide mit Waffen
In der bitteren Auseinandersetzung um Amerikas Waffenkontrollgesetze geht oft verloren, dass für viele Gemeinden Waffengewalt sozusagen zum Alltag gehört - Familien werden zerstört, Angehörige trauern, es sind private Leidensgeschichten. Obwohl die Zahl der Gewaltverbrechen in den USA zurückgegangen ist, liegt die Rate immer noch weitaus höher als in allen anderen entwickelten Ländern.
Carters Sohn etwa war einer von 9147 Menschen, die 2009 in den USA ihr Leben durch Schusswaffengewalt verloren. 2011 - das jüngste Jahr, für das Zahlen vorliegen - waren es laut Statistiken der Bundespolizei FBI 8583. Das sind immer noch fast 24 Menschen am Tag.
Die Zahl liegt noch weitaus höher, bezieht man Selbstmorde mit Schusswaffen ein. Die Behörde Centers for Disease Control registrierte im Jahr 2010 in den USA knapp 19'400 solcher Suizide.
Schärfere Waffenkontrollen
Zu den stets besonders schwer von Waffengewalt betroffenen Regionen gehört Prince George's County, ein Bezirk im Bundesstaat Maryland, vor der Haustür der Hauptstadt Washington. Hier wurde auch Stefan Carter von seinem Onkel erschossen. Maryland insgesamt hat bisher in Sachen Gewalt eine üble Reputation. 2011 kamen auf 100 000 Einwohner 6,8 Todesfälle durch Schusswaffen - das liegt deutlich über dem nationalen Durchschnitt (4,7 Fälle pro 100 000 Einwohner).
In derart von Gewalt erschütterten Regionen gibt es denn auch meistens breite Unterstützung für schärfere Waffenkontrollgesetze. In anderen Teilen der USA, besonders in ländlichen Gebieten, ist das anders. Hier hat sich der Waffenbesitz als Teil des Lebensstils verwurzelt. Die Menschen pochen darauf, dass es ein Recht ist, das ihnen die Verfassung seit mehr als 200 Jahren garantiert. Kritiker halten dem entgegen, dass der betreffende Verfassungsartikel in einem städtischen Umfeld wie Prince George's County einfach keinen Sinn mehr macht.
Alkohol und eine Waffe
Florena Carter, die eine 24-jährige Berufserfahrung als Polizistin hat, tritt dafür ein, den Zugang zu Schusswaffen schwerer zu machen. Sie ist davon überzeugt, dass der Besitz einer Waffe es im Fall ihres Bruders wahrscheinlicher gemacht hat, dass er sie auch benutzt. Wie sie schildert, waren ihr Sohn und sein Onkel zum Geburtstagsfeiern ausgegangen. Auf dem Rückweg sei es zu einem Streit gekommen, Stefan habe ihren Bruder davon abhalten wollen, alkoholisiert Auto zu fahren. Die Auseinandersetzung sei eskaliert, der Onkel habe seine Waffe gezogen und seinen Neffen erschossen.
Wie konnte es so weit kommen? «Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass er betrunken war und eine Waffe hatte», sagt Florena Carter. Sie widerspricht damit dem Kernargument, das Gegner schärferer Waffenkontrollgesetze oft vorbringen: Demnach können striktere Regeln Menschen, die zum Waffenmissbrauch entschlossen sind, nicht stoppen. Ihr Bruder, so hält Florena Carter dagegen, habe nur geschossen, weil es ihm möglich war.
Ein Gesetz in Eigenregie
Maryland hat kürzlich in Eigenregie ein Gesetz verabschiedet, das den Zugang zu Handfeuerwaffen erschweren soll. Demnach werden Kunden vor einem Kauf künftig Fingerabdrücke abgenommen, und ein Sicherheitstraining ist vorgeschrieben. Der Verkauf von 45 Arten von Sturmgewehren und von Magazinen mit mehr als zehn Schuss Munition an Privatleute wird verboten.
Auch mehrere andere Staaten haben als Konsequenz aus dem Schulmassaker vom Dezember Waffengesetze verschärft. Die in Maryland verabschiedeten neuen Regeln gehören zu den striktesten - und es wird damit gerechnet, dass die mächtige Waffenlobby-Organisation NRA gerichtlich dagegen vorgeht und sich das Inkrafttreten damit zumindest verzögert.
Dennoch geben Staaten wie Maryland den Befürwortern strengerer Kontrollen Hoffnung, dass sich etwas bewegt - auch wenn der Kongress in Washington bisher nicht mitgezogen hat. Und die Massnahmen gegen Waffengewalt beschränken sich nicht nur auf gesetzliche Schritte. In Prince George's County sind die örtlichen Stellen dabei, sechs besonders von Gewalt erschütterte Gemeinden zu säubern und aufzubauen. Die Schritte reichen vom Abriss leerstehender heruntergekommener Häuser über bessere nächtliche Strassenbeleuchtungen bis hin zu Programmen, um junge Leute vom Schuleschwänzen abzuhalten. Die Zahl der Morde in dem Bezirk ist von 164 im Jahr 2005 auf 64 im vergangenen Jahr gesunken.
Für Florena Carter ist der Kampf trotz derartiger Fortschritte nicht vorbei, auch nicht das eigene Leid, die Auseinandersetzung mit den eigenen privaten Zwiespälten. Ihr Bruder kommt in zwei Jahren aus dem Gefängnis frei. Sie liebt ihn, sagt sie. Aber sie weiss nicht, ob sie ihm verzeihen kann. Stefan war ihr einziges Kind.
SDA/wid
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