Er schrieb dem Diktator: «Bitte erschiess mich.»
Usbekistan soll demokratischer und moderner werden. Aber wie kann das gehen, wenn der Staatschef ein Autokrat ist?

Zur Wohnung, die ihm mal gehörte, ist es nicht weit. Erkin Mussajew trinkt seinen Tee aus und geht los, es ist eines der schöneren Viertel Taschkents. Zwischen den Häusern stehen hohe Bäume. Er läuft langsam, zieht ein Bein nach. Die Rückenschmerzen, eine Folge der Folter. Wenn er einen Arzt fände, der das bestätigt, könnte er Hilfe beantragen. Es ist eine von vielen Baustellen in dem Leben, das er vor knapp zwei Jahren zurückbekommen hat.
Der 52-Jährige ist einer der politischen Gefangenen, die der neue Präsident freigelassen hat. Seit Diktator Islam Karimow 2016 gestorben ist, verändert sein Nachfolger Schawkat Mirzijajew das Land. Er möchte Usbekistan der Welt öffnen, zumindest ein wenig. Und damit sich die Welt auch den Usbeken öffnet, hat er Reformen angestossen. Das Land soll freier und demokratischer werden. Aber wie glaubhaft ist ein Autokrat, der Freiheit verspricht?

Taschkent liegt im Osten des Landes, Kasachstan und Kirgistan sind nicht weit. Erkin Mussajew bleibt jetzt vor einem vierstöckigen Haus stehen. Er hat hier mit seiner Familie gewohnt. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen, während er im Gefängnis sass, die beiden Kinder hat sie nach Kanada mitgenommen. Die Wohnung haben die Behörden beschlagnahmt. Er schaut nach oben, vierter Stock, am Balkon hängt Wäsche fremder Leute.
Seit Mussajew wieder ein freier Mann ist, wohnt er bei seinen Eltern. Er hat keinen festen Job, keine Krankenversicherung, aber er hat Hepatitis B und C aus dem Gefängnis mitgebracht. Elf Jahre hat er wegen angeblicher Spionage gesessen. Bis heute rufen ihn Mitarbeiter des Innenministeriums an und drängen ihn, zu gestehen. «Was ich brauche», sagt Erkin Mussajew, «ist ein faires Verfahren. Mehr nicht.»
Präsident Schawkat Mirzijajew hat versprochen, «die Menschen reich zu machen». Mit der neuen Offenheit möchte er ausländische Investoren ins Land locken, die Menschenrechtsfrage war dabei von Anfang an eine Hürde. Folter in Gefängnissen und Zwangsarbeit auf Baumwollfeldern passen nicht zu den moralischen Leitlinien westlicher Unternehmen.
Hunderte in Haft
In Usbekistan hat sich zwar manches verbessert in den letzten Jahren. Es werden weniger Menschen auf die Felder gezwungen, Gerichtsverfahren sollen transparenter werden. Der frühere Diktator hat Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Wissenschaftler verfolgt, warf Menschen für ihren Glauben ins Gefängnis, oder für ihre Kontakte in den Westen. Dass sein Nachfolger ein paar Dutzend von ihnen freigelassen hat, ist ein erster Schritt. Jetzt warten alle auf einen zweiten.
Hunderte sitzen laut Organisationen wie Human Rights Watch weiter unschuldig in Haft, die meisten, weil sie ihre Religion ausserhalb der staatlichen Kontrolle ausgeübt haben, andere aus politischen Gründen. Folter ist offiziell verboten, ganz verschwunden ist sie aber nicht. 2017 etwa wurde der Journalist Bobomurod Abdullaew festgenommen und misshandelt – da war der neue Präsident schon an der Macht. Im Dezember verhörte der Geheimdienst den früheren Botschafter Kadyr Jussupow, als der im Spital lag. Sie warfen ihn wegen Spionage ins Gefängnis, verweigerten ihm notwendige Medikamente, obwohl er an Schizophrenie leide, sagen Verwandte. Das System der Unterdrückung arbeitet weiter.

Erkin Mussajew bleibt nur kurz vor seinem alten Haus stehen, man weiss ja nie. Einer der Anwohner schaut schon herüber. Früher war Mussajew Soldat, das war sein Traum. Ende der 90er-Jahre hat er Usbekistan als Verbindungsoffizier bei der Nato in Brüssel vertreten, bis 2001. Danach arbeitete er im Verteidigungsministerium im Taschkent. 2004 verliess er das Militär. Er sagt, weil sie dort die Beziehungen zum Westen einschränken wollten. Mussajew wechselte zu den Vereinten Nationen, hat in einem Projekt für Wassermanagement in Zentralasien gearbeitet. 2006 wurde er am Flughafen aufgehalten. Ein Zollbeamter zog eine CD aus seiner Tasche, «geheim» stand darauf. Er sagt, dass es nicht seine war. Vermutlich hat sie ihm jemand untergeschoben. Als sie ihn mitnahmen, war er überrascht. «Mein ganzes Leben hatte ich für die Regierung gearbeitet.»
Es war die Zeit nach Andischan, damals wurden viele verhaftet. Im Mai 2005 hatte das Militär dort einen Protest niedergeschossen, Hunderte Demonstranten starben. Der Westen verhängte Sanktionen, das Regime in Taschkent machte Jagd auf die Zivilbevölkerung, auf mögliche Zeugen des Massakers, auf Kritiker. Erkin Mussajew sollte eine Erklärung schreiben, nach der amerikanische Kräfte hinter dem Andischan-Aufstand standen. «Natürlich haben sie mich geschlagen», sagt er. Als sie seine Familie bedrohten, gab er nach.
Mussajew geht durch die Strassen, die Wege in seinem alten Wohnviertel sind staubig. Wo früher eine Weinfabrik die Luft sauer machte, klafft heute eine riesige Baulücke. Überall in Taschkent gibt es jetzt Grossbauprojekte. Es ist eine gute Gegend, mehrere Botschaften liegen in der Nähe. Er läuft am Kindergarten vorbei, für den seine Kinder schon zu alt waren, als die Familie aus Brüssel zurück nach Usbekistan kam. Damals hat er die Wohnung gekauft.
Nach acht Jahren konnte er nicht mehr
In seiner Zeit in Brüssel wurde er von EU-Vertretern auf die Folter in usbekischen Gefängnissen angesprochen, 1999 bei einem Treffen zum Thema Menschenrechte zum Beispiel. Er sagt, er wusste zu wenig über die Situation in seinem Land. «Es war etwas, das uns nicht beschäftigt hat.» Er habe da ja selbst noch für die Regierung gearbeitet. Und die neue Regierung? «Sie haben keine Strategie, was die Menschenrechte angeht», sagt er. «Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Aber sie können die Menschen wenigstens aus den Gefängnissen lassen. Warum tun sie das nicht?»
Erkin Mussajew wurde wegen Spionage zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, einen Monat später kam ein Jahr dazu, 2007 vier weitere Jahre. Insgesamt zwanzig Jahre. Einige Monate nach dem ersten Urteil sollte er mehr Namen nennen, Mittäter eines Verbrechens, das, wie er sagt, nie stattgefunden hat. Als er sich weigerte, schlugen die Sicherheitskräfte ihn bewusstlos, sagt er. «Ich erinnere mich, dass der Doktor kam.» Der wollte ihn ins Spital bringen, aber die Wächter zögerten das hinaus.
Später wurde er ins Gefängnis bei Kiziltepa verlegt, arbeitete in einer Ziegelsteinfabrik. Er erinnert sich an den Betonboden, auf dem er schlief. An das eisige Wasser, das sie morgens über ihn kippten. An das offene Fenster, das die Zelle auskühlte. Er wartete auf den Besuch der Eltern, damit sie ihn wärmten, sagt er. Im Sommer musste er stundenlang in der Sonne stehen, ohne Wasser, oft gab es morgens keinen Tee, abends kein Abendbrot. Post bekam er meist nicht. Sie wollten Geständnisse, Namen. 2014 konnte er nicht mehr, nach acht Jahren schrieb er an Diktator Islam Karimow: «Bitte erschiess mich.»
In Taschkent haben sie den Flughafen nach Karimow benannt, in Samarkand ein Mausoleum für ihn gebaut: «Wie kann man dieses Land verstehen?», fragt Erkin Mussajew. Er stellt sich an den Strassenrand. In Taschkent ist jeder, der hält, Taxifahrer. Die meisten Autos sind weisse, in Usbekistan hergestellte Chevrolets, durch Importzölle geschützt vor ausländischer Konkurrenz – noch, jedenfalls. Erkin Mussajew handelt einen Preis aus und steigt ein.
«Das System austauschen»
Seine Eltern kämpften elf Jahre lang für seine Freiheit. Heute versucht er, sie abzuschirmen, wenn die Behörden ihn schikanieren, wenn sie seine Fingerabdrücke nehmen oder ein Foto von ihm machen wollen oder wenn sie wissen wollen, wo er arbeitet, um seinen Chef vor dem Ex-Häftling zu warnen. So hat er schon mehrere Jobs verloren. Er berät jetzt auch Menschenrechtsorganisationen. Das Innenministerium, sagt er, möchte, dass er ruhig ist, seine Schuld gesteht, für seine Freilassung dankt. Wie soll er auf ein faires Verfahren hoffen, wenn die Behörden nicht das ursprüngliche Urteil gegen ihn herausgeben?
Überall in Taschkent hört man von überforderten Ministerien, häufigen Personalwechseln. Der Präsident hat den Geheimdienst umstrukturiert und ein System eingeführt, mit dem sich Bürger online an ihn wenden können. Eines aber hat sich nicht verändert: Nur was der Präsident sagt, gilt. Kommenden Winter sind Parlamentswahlen, die kaum demokratisch ausfallen dürften. Echte Opposition, unabhängige Presse, aktive Zivilgesellschaft gibt es nicht. Und wird es nicht geben, solange Kritikern Gefängnis droht. Als Mussajew 2017 freikam, hat er dem neuen Präsidenten geschrieben und sich dafür bedankt, sagt er. «Wenn wir über Wandel sprechen, dann muss man das gesamte System austauschen.» Nicht nur den Präsidenten.
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