Er liest Homer – und findet den Vater
Daniel Mendelsohn, prominenter amerikanischer Intellektueller und Altphilologe, studiert mit seinen Studenten die «Odyssee» und dringt dabei tief in die eigene Familiengeschichte ein.

Heimkehrergeschichten gelten als Spezialität der Schweiz, von Gottfried Keller bis Thomas Hürlimann. Aber natürlich haben die Schweizer das Genre nicht erfunden. Es ist mehr als zweieinhalbtausend Jahre alt. «Nostoi» hiessen die Erzählungen von Rückkehrern aus dem Trojanischen Krieg. Ihr Höhepunkt ist die «Odyssee»: Zwölftausendeinhundert Verse über die Abenteuer jenes «listenreichen» Helden, der nach den zehn Jahren Belagerung Trojas abermals zehn Jahre brauchte, bis er endlich die heimische Insel Ithaka erreichte und seine Frau Penelope von einer Bande lästiger Freier befreite.
Die Abenteuer, die Odysseus auf See erlebte – der einäugige, menschenfressende Riese Polyphem, der Gesang der Sirenen, die Ungeheuer Scylla und Charybdis, die Zauberin Kirke, die seine Gefährten in Schweine verwandelte –, kennt jeder, auch wenn er Homers Epos nie gelesen hat. Sie gehören zur abendländischen Fantasiewelt wie Rotkäppchen oder der Drachentöter Siegfried.
Die «Odyssee» ist aber auch ein Werk raffinierter Erzählkunst. Und das will Daniel Mendelsohn, ein prominenter New Yorker Intellektueller, von Beruf Altphilologe, seinen Studenten nahebringen. Mendelsohn ist auch bei uns bekannt geworden durch seine Holocaust-Familienrecherche «Die Verlorenen. Sechs von sechs Millionen». Er lebt offen homosexuell und zieht zwei Söhne auf. Und er ist offenbar ein empathischer, charismatischer Lehrer. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls sein neues Buch.
Ein Buch, das vieles auf einmal ist
Es trägt den Titel «Eine Odyssee» und ist vieles auf einmal: der Bericht über jene vier Monate, in denen er mit seinen Studenten die 24 Gesänge durchnimmt. Eine wunderbare Einführung in Homers Werk, zugleich eine Hommage an eine Gelehrtentradition der Interpretation und Auslegung, die bis in die Antike selbst zurückreicht und, glaubt man ihm, keineswegs vor dem Ende steht. Und es ist eine Sohn-Vater-Geschichte. Denn einer der Teilnehmer am «Odyssee»-Seminar ist Jay Mendelsohn, 81 Jahre alt, ehemals tätig in der mathematisch-technischen Forschung.
Eigentlich möchte er nur zuhören. Aber schon bald schaltet er sich mit kritischen Bemerkungen in die Diskussion ein: Was denn das für ein Held sein soll, dieser Odysseus – ein Ehebrecher (betrügt seine Penelope mit Kirke, mit Kalypso) ein lausiger Feldherr (keiner seiner Männer überlebt) und eine Heulsuse dazu! Er, Jay, war im Krieg, er weiss, was Heldentum ist. Und er weiss auch, was es bedeutet, mit jemandem zusammenzubleiben, trotz all den Veränderungen, die die Jahrzehnte mit sich bringen, weil es die «kleinen Geheimnisse» sind, die verbinden.
Der Sohn ist zuerst unangenehm berührt, merkt aber schnell, dass die Einwürfe des Vaters die Studenten ansprechen. Dass seine Lebenserfahrung ihre Jugend beeindruckt. Und dass das Seminar etwas aus der Spur gerät, ist nicht von Nachteil. Auch nicht für den Professor, der lernt, los- und neue Sichtweisen zuzulassen. Immer wieder fällt der Satz: «Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.»

Die ferne Abenteuer- und Heimkehrergeschichte hört auf, Bildungsgut zu sein, und führt ihn auf eine eigene Reise: zurück in die Kindheit und hin zu einem Vater, der ihm bisher eher fremd war. Ein verschlossener, mürrischer, strenger Mann, der ständig an defekten Autos herumschraubte. Der Sohn, stark in Anspruch genommen von seiner sexuellen Selbstfindung, hatte sich Ersatzväter gesucht und gefunden. Was dem Vater nicht verborgen blieb.
Im Seminar, durch den Blick der Studenten, und auf einer anschliessenden Kreuzfahrt durchs Mittelmeer, zu den homerischen Schauplätzen, lernt er den Vater von einer anderen Seite kennen: entspannt, grosszügig, lebensfroh. Einer, der den Drink an der Bar geniesst, die Plauderei mit den Mitfahrern, der beim «American Songbook» versonnen mitsingt. Als es der Sohn einmal wegen seiner starken Klaustrophobie kaum in die Grotte der Nausikaa schafft, gibt der Vater vor, er selbst habe die Stütze gebraucht. Er, der nie eine Schwäche zugab! Gab es diese Seite zuvor tatsächlich nicht, war der Sohn nur blind dafür, oder war der Vater jetzt so, wie er immer sein wollte?
Ein Held in wechselnden Verkleidungen
Es sind solche Fragen der Identität, der Selbst- und Aussenwahrnehmung, die auch in der «Odyssee» eine grosse Rolle spielen, die ja auch eine Vater-Sohn-Geschichte ist. Der Held tritt unter wechselnden Verkleidungen auf, wird von den Göttern vergreist oder wieder verjüngt, präsentiert sich an verschiedenen Orten mit immer anderen Herkunftslegenden, begegnet sich schliesslich selbst als Gestalt in Gesängen über den Trojanischen Krieg, die von reisenden Barden vorgetragen werden. Wie gibt man sich einem Sohn zu erkennen, der einen nur von Erzählungen kennt? Wie stellt man die Frau nach 20 Jahren Abwesenheit auf die Probe? Und wie diese ihn?
Diese Fragen beantwortet der Dichter der «Odyssee», indem er sie in Handlung auflöst. Das Epos, und darauf legt Mendelsohn in Seminar und Buch immer wieder den Finger, ist ein überaus raffiniertes Erzählwerk, das mit Exkursen und Abschweifungen, mit Rückgriffen und Binnenerzählungen doch immer wieder zum Hauptstrom zurückfindet. Es ist überdies eine Geschichte über das Geschichtenerfinden, vom Bericht über die Fantasterei bis zur glatten Lüge.
Das Berückende an Mendelsohns Buch ist nun, dass der Autor nicht nur vermittelt und interpretiert, sondern der Reise des Odysseus seine eigene gegenüberstellt oder vielmehr beide ineinander verwebt. Die verwickelte Erzählweise Homers kehrt in seiner eigenen wieder, die sich zu einer regelrechten Vater-Recherche ausweitet mit Befragung von Verwandten und Freunden. Es gibt Sätze, die in ihrem mäandernden Fortschreiten wie ein Stilpastiche Homers wirken. Und es gibt Motive, die hin und her schnellen wie ein Weberschiffchen.
Bettgeheimnisse
Als Odysseus und Penelope sich erkennen, spielt das Bett, das er einst um einen Olivenbaumstamm gebaut hatte, eine entscheidende Rolle. Vater Mendelsohn hatte seinem kleinen Sohn auch ein Bett gebaut: auf einem Türblatt. Dieses Bett steht jetzt in des Professors Arbeitsklause, der Vater schläft darauf, wenn er zum Seminar anreist. Und des Vaters letztes Wort an den Sohn – wie wir von Odysseus' Tod erfahren, so auch von dem von Jay Mendelsohn – lautet «Tür»: ein unvergessliches Symbol der Verbundenheit.
Was für ein Buch! Es führt auf denkbar niederschwellige Weise in einen der bedeutendsten Texte der Weltliteratur ein – bis hin zur Erläuterung altgriechischer Vokabeln wie «polytropos», vielgewandt, oder «homophrosyne», Einklang der Gedanken eines Paares – und landet beim Allerpersönlichsten, das zugleich das Allgemeinste ist: bei Fragen, wo der Sinn des Lebens eigentlich liegt. Ankommen? Dableiben? Aufbrechen? Ist das Schlimmste an der Sehnsucht ihre Erfüllung?
Eine der vielen wie nebenbei erteilten Lehren des Buches ist jedenfalls: Man hört nie auf, seine Nächsten besser kennen zu lernen. Wie sich selbst.
Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Siedler, München 2019. 350 S., ca. 40 Fr.
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