Gary Lineker gegen die BBCEr kritisiert, wird suspendiert – nun fehlen dem Sender die Experten
Bald 24 Jahre ist der ehemalige Fussballer das Gesicht von «Match of the Day» – wegen eines Tweets zur Asylpolitik wurde er von der BBC beurlaubt. Viele sind ihm gefolgt.

Gary Lineker setzt sich in den Fond einer Limousine, ein Lächeln auf dem Gesicht, belagert von Journalisten, die er wortlos zurücklässt, und wird von London nach Leicester chauffiert. Er hat Zeit an diesem Samstagnachmittag, um in seiner Heimatstadt die Mannschaft seines Herzens in der Premier League gegen Chelsea zu sehen.
Den Abend hat er auch gleich frei, weil er von der BBC freigestellt worden ist: kein «Match of the Day» mit ihm als Moderator, kein lockerer Spruch mit seinen Freunden Alan Shearer und Ian Wright, die normalerweise als Experten an seiner Seite sitzen. Lineker ist auf Beschluss seines Arbeitgebers suspendiert. So etwas hat es in der bald 59-jährigen Geschichte der Sendung noch nie gegeben.
Die BBC muss sich abends kurz vor halb elf Uhr Ortszeit mit einem Notprogramm behelfen. Sie zeigt nur ein paar Bilder von den Spielen der Premier League: ohne Moderator, weil keiner Lineker ersetzen mag, ohne Kommentare und Experten, weil sich alle mit Lineker solidarisieren, ohne Interviews und ohne fundierte Analysen. Nicht einmal die eingängliche Erkennungsmelodie, die es seit 1970 gibt, wird eingespielt. Nach zwanzig Minuten ist die seelenlose Aufführung vorbei.
Die Wut der Konservativen
Seit Dienstag macht England den Eindruck, als sei schon fast eine staatsbedrohende Krise ausgebrochen. Das mag am englischen Wesen liegen, an seiner Politik und seinem Journalismus, gerne etwas gross und schrill zu machen, nicht zuletzt dann, wenn das Nationalheiligtum Fussball betroffen ist. In diesem Fall nun geht es aber auch um die British Broadcasting Corporation, die BBC, 1922 gegründet und vielleicht berühmtester Fernsehsender der Welt. Und besonders ums Recht der freien Meinungsäusserung.
Angefangen hat es mit den Tweets, die Lineker am vergangenen Dienstag zur neuen britischen Ausländerpolitik abgesetzt hat. «Um Himmels willen», schreibt er an diesem Tag zuerst, «das ist entsetzlich.» Das neue Gesetz der konservativen Tories unter Premierminister Rishi Sunak sieht vor, illegale Flüchtlinge sofort in ihr Herkunftsland zurückzuschicken oder in einen sicheren Drittstaat abzuschieben, zum Beispiel Ruanda. «Genug ist genug», poltert Innenministerin Suella Braverman, selbst Kind indisch-tamilischer Eltern.
Grosse Wellen wirft aber erst, was Lineker in einem zweiten Tweet nachlegt: «Das ist einfach eine unermesslich grausame Politik, die sich gegen die schwächsten Menschen richtet, in einer Sprache, die jener Deutschlands in den 30er-Jahren nicht unähnlich ist, und ich soll nicht bei Trost sein?»
Die BBC rügt ihn dafür tags darauf, weil sie ihren Grundsatz der politischen Neutralität verletzt sieht. Die Konservativen – unter ihnen etliche Minister der Regierung von Sunak, schwerreich und indischer Abstammung wie seine Frau – reagieren aufgebracht und fordern Massnahmen gegen Lineker.

Am Donnerstag meldet sich Lineker wieder, einst Stürmer der Weltklasse und mit 80 Länderspielen für sein Land, inzwischen 62 und ein Moderator der Weltklasse. Es seien ein paar interessante Tage gewesen, schreibt er. Er sei froh, dass «diese lächerlich unverhältnismässige Geschichte abzuflauen scheint». Er freut sich sehr auf die Präsentation der Sendung am Samstag und bedankt sich für die Unterstützung. «Es war überwältigend.» Hier irrt Lineker. Die Geschichte dreht weiter.
Am Freitag wird Lineker die Moderation für MotD entzogen. «Verhältnismässig» nennt BBC-Generaldirektor Tim Davie den Entscheid. Lineker soll mit seinem Nazi-Vergleich selbst viele jener abstossen, die gegen die Massnahmen der Tories seien. So berichtet das zumindest der «Daily Telegraph», Leitmedium der englischen Konservativen. Ein Kommentator der Zeitung wirft Lineker die «Arroganz der Macht» vor: «Er ist der grosse Spieler, der glaubt, er könne sich über den Schiedsrichter hinwegsetzen. Der Ruf der gesamten BBC und ihres Generaldirektors hängt davon ab, ihm zu sagen, dass er das nicht kann.»
«Politisch-kultureller Krieg»
Gary Neville, selbst Alt-Internationaler und längst angesehener Kritiker bei Sky Sports, wertet den Fall ganz anders: «Das passiert, wenn man es mit den Tories und dem System aufnimmt.» Die oppositionelle Labour-Partei nutzt die Gelegenheit, um die Konservativen zu attackieren. Sie sieht in Linekers Suspendierung «einen Angriff auf die Meinungsfreiheit angesichts des politischen Drucks». Ihr Chef, Sir Keir Starmer, hält der Regierung vor, die Schuld für ihr Versagen in der Asylpolitik auf andere zu schieben, unter anderem auf Lineker.
Der «Guardian» schreibt von einem «politischen und kulturellen Krieg», der nun auch das Heiligtum des Lieblingsspiels der Engländer erreicht habe, den «Match of the Day». Es geht dabei auch um Richard Sharpe als Vorsitzenden der BBC. Sharpe gilt als Spender der Tories und hat dem früheren Premier Boris Johnson einmal zu einem Darlehen über 800’000 Pfund verholfen. Auch darum steht der Sender im Verdacht, unter dem Einfluss der Konservativen zu sein.
Klopps Hilfe und Rätsel
Dutzende von Mitarbeitern der BBC haben sich mit Lineker solidarisiert, nicht nur Shearer und Wright, auch sie grosse alte Stürmer des englischen Fussballs. Die Sendung «Football Focus», die immer zur Mittagszeit aufs Wochenende einstimmt, fällt aus, weil sie nach der Absage der früheren Nationalspielerin Alex Scott keiner moderieren will, «BBC Radio 5 Live» findet nur in reduzierter Form statt, «Final Score» am späteren Nachmittag gar nicht. Überall gibt es die grosse Verbrüderung mit Lineker.
Die BBC entschuldigt sich für diese Ausfälle. «Wir arbeiten hart daran, die Situation zu klären», teilt sie mit. Und schiebt die Hoffnung nach, dass das bald geschehe. Die Lücken im Programm füllt sie mit Konserven wie «Bargain Hunt», es ist eine Schnäppchenjagd auf einem Antiquitätenmarkt, die von ihrer Bedeutung so gar nicht zum Ruf der BBC als Nachrichtensender passt.
In Leicester sieht Lineker das 1:3 seines Heimatvereins. Unterdessen kommentiert Liverpools Trainer Jürgen Klopp nach dem Spiel am frühen Nachmittag in Bournemouth seine Aussagen: «Ich kann keinen Grund erkennen, wieso jemand dafür zurücktreten sollte.» In Linekers Botschaft gehe es um Menschenrechte, und es sollte möglich sein, sich dazu zu äussern. Klopp sieht sich in einer Welt, in der es schwierig sei, alle Regeln zu erfüllen. Und mit einem tut er sich nicht zum ersten Mal besonders schwer: dass alles über die sozialen Medien läuft. «Vielleicht», fügt er bei, «bin ich zu alt dafür.»
Generaldirektor Davie ist zunehmend dem Druck ausgesetzt, zurückzutreten. Dem will er nicht nachgeben. Dafür sagt er in der eigenen Nachrichtensendung: «Ich möchte Gary Lineker bei BBC wieder auf Sendung sehen.»
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