Proteste in Chile«Er ist nicht gefallen, sie haben ihn gestossen»
Ein missratener Polizeieinsatz löst breites Entsetzen aus. Manche fürchten eine Rückkehr ins Chaos, indem das Land letztes Jahr versank.

Fast genau ein Jahr ist vergangen, seit im Oktober 2019 Massenproteste Chile erschüttert haben. Nun könnten diese erneut aufflammen, ausgelöst durch ein Video vom vergangenen Freitag: Es zeigt eine Gruppe von Demonstranten, die auf der Flucht vor der Polizei über eine Brücke in Chiles Hauptstadt Santiago läuft. Auf den Aufnahmen kann man sehen, wie ein Beamter seitlich in einen 16-Jährigen rennt. Der Jugendliche stürzt daraufhin über das Geländer der Brücke und sieben Meter in die Tiefe. Dort blieb er verletzt im seichten Wasser liegen, Rettungskräfte brachten den jungen Mann ins Krankenhaus.
Er hat den Sturz überlebt, allerdings mit einem Schädel-Hirn-Trauma und gebrochenen Handgelenken. Doch auch wenn der 16-Jährige ausser Lebensgefahr ist, hat der Vorfall in Chile breites Entsetzen ausgelöst. Viele Menschen fühlen sich erinnert an das brutale Vorgehen der Polizei bei den Protesten im letzten Jahr.
Nur zwei Wochen sind es noch, bis sich am 18. Oktober der Beginn der Proteste im letzten Jahr jährt. Eine Woche später findet dann das grosse Referendum über eine neue Verfassung statt. Die Stimmung in Chile, fürchten Beobachter, dürfte in den nächsten Tagen noch angespannter werden. Manche fürchten eine Rückkehr in das Chaos, in dem das Land letztes Jahr versank.
Die Proteste hatten damals mit einer Erhöhung des Fahrpreises für die Metro in Santiago begonnen. Schüler fingen an, demonstrativ und in Massen schwarz zu fahren, schnell schwappte der Protest auch auf andere Bevölkerungsgruppen über. Als die Polizei Mitte Oktober versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen, kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Die Regierung versuchte einzulenken, die Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets wurde zurückgenommen, längst aber ging es bei den Protesten um mehr.
Das Erbe von Augusto Pinochet
Chile ist ein extrem unausgeglichenes Land. Es gibt eine wohlhabende Elite, aber auch alte Menschen, die von ihrer spärlichen Rente kaum noch leben können. Viele Junge arbeiten in prekären Jobs. Bildung ist in Chile so gut wie vollständig privatisiert, genauso wie das Renten- und Gesundheitssystem. All dies ist auch ein Erbe der Diktatur von Augusto Pinochet, der das Land von 1973 bis 1990 beherrschte und ein neoliberales Wirtschaftsmodell im Land installierte, das so auch bis heute in der Verfassung festgeschrieben ist.
Die Welle von Protesten, die das Land im Oktober letzten Jahres überrollte, hatte darum auch als eine ihrer Kernforderungen eine neue Verfassung. Nach monatelangen Demonstrationen versprach die Regierung Ende des Jahres ein Verfassungsreferendum. Im April dieses Jahres sollten die Chilenen darüber abstimmen, ob sie überhaupt eine neue Verfassung wollen. Dann aber kam das Coronavirus, die Abstimmung musste verschoben werden, und zur Eindämmung des Erregers verhängte die Regierung eine strenge Ausgangssperre. Auch die Demonstrationen wurden durch die Beschränkungen jäh beendet.
Nach Monaten im Lockdown kehrt nun zaghaft wieder die Normalität ein. Gleichzeitig aber flammen auch die Proteste wieder auf. Freitags treffen sich Demonstranten wieder auf der Plaza Baquedano in Santiago, die sie umgetauft haben in Plaza Dignidad, Platz der Würde. Ein paar Schritte sind es nur von hier bis zu dem Ort, an dem am vergangenen Freitag der 16-jährige Demonstrant in die Tiefe stürzte.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt
Nachdem sich die Aufnahmen im Netz verbreitet hatten, sprachen die chilenischen Medien und die Polizei zunächst von einem Unfall. Der junge Mann habe wohl einfach das Gleichgewicht verloren, sagte ein Sprecher der Polizei. Zudem sei der Vorfall in einer Situation entstanden, in dem die Polizei versucht habe, Randalierer und Unruhestifter festzunehmen.
Mittlerweile aber hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet, der Polizist ist verhaftet worden und die Opposition fordert einen Rücktritt des Leiters der Carabineros. Derweil gingen am Wochenende Hunderte Demonstranten in Santiago mit Schildern auf die Strasse, auf denen stand «Er ist nicht gefallen, sie haben ihn gestossen».
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