Eine ungenutzte Chance der Annäherung
Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri haben mit ihren Jubelgesten Regeln gebrochen – man sollte ihnen nachsehen.

Nur für den Fall, dass es in den letzten Stunden untergegangen sein sollte: Die Schweiz hat das zweite Gruppenspiel gegen Serbien gewonnen. Sie hat ein 0:1 in ein 2:1 gewandelt und steht kurz vor dem Einzug in die Achtelfinals bei dieser WM. Das Team hat sich nach einem verpassten Start gesteigert und nach der Pause zwei ebenso schöne wie wichtige Tore erzielt; eines durch Granit Xhaka und eines durch Xherdan Shaqiri in der letzten Spielminute.
Die Mannschaft hat gezeigt, dass die spielerischen Fortschritte nicht bloss herbeigeredet wurden, sondern dass die Schweiz tatsächlich fast jedem Gegner ihr Spiel aufzwingen kann. Die Partie gegen die Serben war das beste Länderspiel in der Ära Petkovic.
Und trotzdem redet seit Freitag alles über den Jubel der Torschützen.
Shaqiri und Xhaka konnten es nicht lassen, mit ihren Händen den albanischen Doppeladler zu formen, der die serbischen Zuschauer im Stadion und vor den Fernsehern provoziert haben muss. Ihre erste Reaktion im Moment des Erfolgs war nicht der Gedanke an das eigene Team oder die Schweiz, das Land, für das sie spielen. Sondern er galt einer persönlichen Reaktion.
Ist das «unüberlegt», «überflüssig» und «unsensibel», wie es im Nachgang zu lesen war? Ja, ganz bestimmt sogar.
Es ist ein Regelübertritt. Zum einen gegen die teilweise recht fragwürdigen Richtlinien der Fifa, die politische Botschaften auf ihren Plätzen kategorisch untersagt. Aber es verstösst auch gegen die interne Absprache der Mannschaft, die 2014 beschlossen hatte, diese Geste nicht mehr zu gebrauchen.
Übergeordnete Bedeutung
Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka haben diese Regeln gebrochen; und trotzdem muss man ihnen ihre Gesten nachsehen. Denn letztlich waren die beiden Spieler einen Moment lang das, was von Fussballern das ganze Jahr über gefordert wird: ehrlich.
Da standen zwei junge Menschen auf dem Rasen, beide Mitte 20, und knietief im eigenen Adrenalin. In den Tagen und Wochen zuvor wurden sie und ihre Familien beleidigt. Im Stadion sollen die serbischen Zuschauer den Schweizern mit kosovo-albanischen Wurzeln zugerufen haben: «Tötet die Albaner!» Wer sich die gute WM-Stimmung verderben will, kann sich gerne mal die Social-Media-Profile der Spieler anschauen und lesen, was dort unter ihren Bildern geschrieben steht.
Xhaka, Shaqiri und andere Spieler bewegen sich nicht erst seit der Auslosung in einem Konflikt, in dem sie sich der übergeordneten Bedeutung des Spiels nicht mehr entziehen konnten. Xhakas Geschichte ist geprägt durch die seines Vaters, der 1986 nach einer Demonstration gegen das Regime in Belgrad inhaftiert wurde. Sein Bruder Taulant spielt für Albanien und war 2014 dabei, als ein Spiel gegen Serbien abgebrochen werden musste, nachdem eine Drohne mit der Fahne von Gross-Albanien ins Stadion geflogen war.Shaqiri floh mit seiner Familie vor dem Kosovo-Krieg in die Schweiz. Erst kürzlich hat er erzählt, wie das Haus seines Onkels niedergebrannt wurde. «Es herrschte viel Leid», hat er gesagt.
Das alles muss berücksichtigt werden, um zu verstehen, wie schwer es sein muss, sich in einem Moment totaler Ekstase unter Kontrolle zu haben.
Geteilte Loyalität
Das grössere Problem fand jedoch vor und unmittelbar nach dem Spiel statt, nämlich im Umgang des Schweizer Verbandes mit der Thematik. Da wurde steif und fest behauptet, eine politische Dimension dieses Spiels gebe es nicht. Alle getätigten Aussagen von Spielern, die über den Druck redeten, blieben unter Verschluss. Und auch nach dem Spiel hatten weder Shaqiri noch Xhaka die Courage, über ihre Gefühle, ihre Wut und ihre Freude über die serbische Niederlage zu reden.
Besonders Trainer Vladimir Petkovic weigerte sich vehement, Fragen in diese Richtung zu beantworten. Mal antwortete er auf eine entsprechende Frage, wie toll das Wetter in Kaliningrad sei. Mal lobte er seine Spieler für den Auftritt gegen Brasilien. Und nach dem Abpfiff behauptete er, er habe den Jubel nicht gesehen. Petkovic soll seine Spieler zudem angewiesen haben, sich nach dem Schlusspfiff nicht öffentlich zu äussern. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn seine Spieler gar nicht mehr über das Thema geredet hätten.
Dabei hätte doch insbesondere der Trainer kraft seiner Vita die Möglichkeit, um Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Er hätte erklären können, dass es Spieler in seinem Team gibt, die zwei Heimaten haben, und dass geteilte Loyalität nicht bedeutet, dass die Spieler nicht stolz darauf wären, für die Schweiz zu spielen.
So aber wurde das Thema seit den Diskussionen um den «Balkangraben» zur Seite geschoben, auch wenn innerhalb der Mannschaft sehr wohl eine Annäherung stattgefunden hat.
Im Spiel gegen Serbien hat sich das Thema in einem Ausbruch der Emotionen seinen Weg an die Oberfläche gebahnt. Aber wenn der Verband sagt, dass man sich auch weiterhin auf den Sport konzentriere und nicht auf die Politik, dann zeigt das, wie er die Wirklichkeit innerhalb des Teams und innerhalb des Landes verklärt.
Ideale Gelegenheit
Durch dieses widersprüchliche Verhalten – der unmissverständliche Jubel und die komplette Ignoranz des Themas Doppelbürger – hat sich die Nationalmannschaft wieder viel Kredit bei einigen Schweizer Anhängern verspielt. Jetzt wird es wieder um das Innenleben des Teams gehen, um seine Identität und den Stellenwert. Und nicht um das 2:1 gegen die Serben.
Dabei wäre jetzt die ideale Gelegenheit, eine wichtige Diskussion zu führen. Xhaka und Shaqiri könnten offen zu ihren Gesten und Gefühlen stehen und aufklären. Sie könnten Ehrlichkeit und Rückgrat beweisen und in ihren Rollen als Vorbilder von vielen jungen Schweizern eine Diskussion anstossen.
Weil sie und der Verband aber darauf verzichten, wird diese Chance auf Annäherung ungenutzt bleiben.
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