Eine Hymne auf die Unternehmer
Wer ist sozial? Wer macht uns reich? Ein paar welthistorische Betrachtungen.

Nachdem in den vergangenen Tagen allgemein der Eindruck aufgekommen ist, die «Wirtschaft», also die arroganten Manager und kaltblütigen Unternehmer, hätten fast zu Recht die Volksabstimmung über die Steuerreform verloren, ist es an der Zeit, die Dinge wieder etwas zurechtzurücken. Eine etwas weitere Perspektive, ein paar grundsätzlichere Überlegungen drängen sich auf als die Frage, ob es das Parlament nicht besser unterlassen hätte, uns mit dem Zinsabzug auf überschüssigem Eigenkapital in Panik zu versetzen. Gewiss, die Wirtschaftsverbände haben schon lange so gut wie jede Glaubwürdigkeit vernichtet, und sicher: Es hilft der liberalen Sache nicht, wenn sich die Schweizer Spitzenmanager nach wie vor galaktische Saläre gönnen, selbst wenn die Firma, die sie angeblich führen, hohe Verluste schreibt (siehe Credit Suisse) – und ohne Frage hat der «Wirtschaft» kaum etwas so geschadet wie das wiederholte Paktieren mit der wirtschaftsfeindlichen SP, wenn es um unser Verhältnis zu Europa geht, dennoch steht fest: Ohne Unternehmer und die einen oder anderen tüchtigen Manager lebten wir nicht viel besser als die Römer oder die Menschen im Mittelalter.
Niemand hat in den vergangenen zweihundert Jahren mehr dafür getan, dass wir heute diesen ungeheuren Wohlstand nicht nur im Westen, sondern in weiten Teilen der Welt feststellen können. Nicht die vielen Bauern, nicht die vielen Arbeiter, weder Könige noch Präsidenten, weder Lehrer noch Professoren, sicher nicht die Journalisten und geradeso wenig die Beamten sind dafür verantwortlich. Nach Tagen der antikapitalistischen Euphorie in linken Kreisen und der radikaldemokratischen Trotzköpfigkeit im rechten Milieu, täte es dem einen oder anderen Wähler wieder einmal gut, sich mit Wirtschaftsgeschichte zu befassen. Da in unseren Schulen kaum mehr solches gelehrt wird, hat sich ein ökonomischer Analphabetismus ausgebreitet, der uns, wenn wir nichts dagegen tun, einmal sehr arm machen wird; womöglich so arm, wie wir Menschen es seit der Steinzeit immer gewesen waren – bis sich im 18. Jahrhundert in einem kleinen Gebiet namens England Erstaunliches zutrug. Wie erstaunlich, lassen die Zahlen erkennen.
Statistik des Glücks
Bis ins Jahr 1800 hatten die meisten Menschen dieser Erde, ob in China, Europa oder wo auch immer, mit etwa 3 $ pro Tag auszukommen – nur ganz wenige, ein paar degenerierte Adlige in ihren Schlössern, ein paar überflüssige Kardinäle in ihren leeren Palästen oder die vielen korrupten Könige und ihre Lakaien lebten angenehmer und sorgloser. Zwar gab es hin und wieder bessere Zeiten, wo dieser Durchschnitt um wenige Cents anstieg, öfter kam es jedoch vor, dass die Menschen mit noch weniger zu Rande kommen mussten: In der Regel lebte jeder Mensch mit der ständigen Angst, dass auch nur eine Missernte oder eine Erkältung den Tod bringen konnten. Hungersnöte, Pest, Cholera, ein Schnupfen: Für alle Eltern gehörte es zu den üblichen Verhängnissen des Lebens, dass die Hälfte ihrer oft zehn oder mehr Kinder das zweite oder dritte Lebensjahr nicht überlebte, sollten sie gar so alt werden. Wer sich heute – zu Recht – über unhaltbare, herzzerreissende Zustände in Afrika Sorgen macht, dem dürfte nicht bekannt sein, dass dies noch vor zweihundert Jahren für alle Menschen dieser Welt das übliche Los bedeutete, auch in der Schweiz.
Dass sich dies ab 1800 zuerst in England, dann in Westeuropa und Nordamerika, schliesslich in vielen Ländern Asiens dramatisch ändern sollte: Diese Industrielle Revolution, wie man sie bald nennen sollte, zählt zu den wichtigsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte nach der Erfindung der Landwirtschaft vor gut zehntausend Jahren. Eine Revolution, die nie mehr aufgehört hat: Vom «Great Enrichment», von der grossen Wohlstandsvermehrung, spricht Deirdre McCloskey, eine der bedeutendsten Ökonominnen unserer Epoche; erst vor Kurzem hat die Amerikanerin ihre Trilogie einer modernen Wirtschaftsgeschichte mit dem letzten Band abgeschlossen («Bourgeois Equality: How Ideas, not Capital or Institutions, Enriched the World», Chicago 2016). Wenn wir uns die Zahlen vor Augen führen, die McCloskey referiert, wird deutlich, wie dramatisch sich die materiellen Verhältnisse der gesamten Menschheit verbessert haben: Die 3 $ pro Tag haben wir erwähnt, sie entsprechen etwa dem, was ein Einwohner von Haiti oder Afghanistan heute zur Verfügung hat, die beiden Länder gehören zu den ärmsten der Welt. Doch leben heute die allermeisten Menschen sehr viel besser: inzwischen sind es durchschnittlich 33 $ pro Tag, was in etwa den Lebensstandard von Brasilien wiedergibt – und in diesem Durchschnittswert sind Haiti und Afghanistan mitberücksichtigt.
Als noch spektakulärer erweist sich natürlich die «Grosse Bereicherung», wenn wir die entwickelte Welt betrachten: In Japan oder Finnland oder Frankreich, alles Länder, die um 1800 auf dem 3-$-Niveau verharrten, beträgt das Durchschnittseinkommen pro Tag inzwischen 100 $. «Das Einkommen ist also nicht um 30 Prozent gestiegen», schreibt McCloskey, «sondern um den Faktor 30 (ich werde diesen Punkt so oft wiederholen, bis Sie es auf Ihrem Puls spüren), es handelt sich also um mehrere Hundert Prozent.» Kurz, keine Verdoppelung, wie das ab und zu vorkam und die Menschen hinriss, sondern wir sprechen von einer Steigerung um bis zu 2000 Prozent – und vor allem war es eine Steigerung, die seither nicht abbrach, sondern im Gegenteil sich laufend erhöhte. Heute verfügt der durchschnittliche Brasilianer über ein Einkommen, das 1941 der normale Amerikaner erzielte. Um 1800 arbeiteten von fünf Amerikanern vier als Bauern, um den fünften zu ernähren – heute versorgt ein amerikanischer Bauer allein 300 Leute.
Das grosse Rätsel
Wie kam es dazu? Diese Frage beschäftigt seither Ökonomen, Historiker und viele andere Wissenschaftler wie kaum eine andere – zumal es auch immer darum ging, aus den Antworten sinnvolle Methoden abzuleiten, wie man jenen Ländern und Menschen helfen könnte, ebenso reich und glücklich zu werden wie wir in Europa und Amerika. Nachdem die Wissenschaft jahrzehntelang vom Unternehmer kaum sprach, hat sich das in der jüngsten Gegenwart stark geändert: Eine einflussreiche und renommierte Schule von Ökonomen und Wirtschaftshistorikern, zu denen die zitierte McCloskey gehört, vertritt heute die Ansicht, dass den Unternehmern eine einzigartige Bedeutung zuzumessen ist, wenn man unseren historisch beispiellosen Wohlstand erklären will. Ohne Unternehmer, ohne diese merkwürdigen Querulanten und Spürhunde des Neuen, wäre es nie zu dieser grossen Bereicherung gekommen – und ohne die aktuellen Unternehmer ginge es uns bald wieder schlecht. Denn Querulanten und Spürhunde waren und sind sie oft: Was uns in erster Linie reich gemacht hat, sind die zahllosen Innovationen, die Unternehmer machten oder vermarkteten, welche die Produktivität unserer Arbeit erhöhten.
Ein Tüftler wie James Watt, der die Dampfmaschine erfand, ein narzisstisches Genie wie Thomas Edison, der die Glühbirne perfektionierte, ein Studienabbrecher wie Steve Jobs, der das iPhone ins Leben rief: Diesen eigenartigen, oft schwierigen und rücksichtslosen Menschen war immer gemein, dass sie Dinge, Chancen und Produkte sahen, die niemand sonst erkannte, dass sie sehr viel Risiko auf sich nahmen und Geld ausgaben, bevor sie auch nur einen Rappen verdient hatten, dass sie Licht ins Dunkle brachten, wo wir Übrigen lieber in der bekannten Finsternis tappten.
Warum England – und zunächst nur England – solchen Leuten, die es schon immer gegeben hatte, im 18. Jahrhundert ein nahezu perfektes Umfeld bot, dass sie sich entfalteten und die Welt auf immer veränderten: Auch über dieser Frage brüten seither viele kluge Köpfe. Weil ich mit der Steuerreform angefangen habe, nenne ich nun nicht die Steuern. Selbst wenn ich das gerne getan hätte: Es wäre ungeschickt, denn ironischerweise zählte England damals zu den am höchsten besteuerten Ländern Europas, höher als Frankreich gar, wo bald unter anderem wegen der Steuerlast die Revolution ausbrechen sollte.
Dennoch ist klar, dass es auf die Rahmenbedingungen ankam und diese waren in England günstig: Dazu gehörten etwa ein relativ zuverlässiger Rechtsstaat, ein frühes parlamentarisches Regime, aber auch Werte, wie sie nur ein protestantisches Land zu jener Zeit hervorzubringen imstande war (Arbeitsethos, Zeitmanagement, wirtschaftlicher Erfolg als Tugend) – schliesslich ein kulturelles Ideal, das man den «Gentleman» nannte, eine Erkenntnis, auf die der brillante israelisch-amerikanische Historiker Joel Mokyr oft hingewiesen hat. Von Unternehmern erwartete man, dass sie sich wie Gentlemen verhielten, was unter anderem bedeutete: Man betrog einander nicht, man vertraute dem Vertragspartner und hielt Verträge ein, ohne dass ein Gericht solches erzwingen musste, last but not least und für unsere Zeit besonders relevant: Es war verpönt, sich allzu unanständig zu bereichern. Profit war wichtig, Profitgier dagegen wurde verachtet. Ein Gentleman-Entrepreneur sah sich als Wohltäter, und er war es auch: Gemäss neuesten Berechnungen, die noch heute gelten, erhält ein Unternehmer jeweils nur einen kleinen Anteil des gesamten Wohlstandes und gesellschaftlichen Nutzens, den er mit seiner Erfindung oder seinem Unternehmen stiftet: nämlich bloss 2,2 Prozent. Kurz, wenn jemand sozial ist, dann der Unternehmer. Niemand sonst bringt uns allen so unendlich viel.
Daher ist es fatal, nein, dumm, wenn eine Gesellschaft ihre Unternehmer nicht feiert und pflegt und alles aus dem Weg räumt, das diese daran hindert, zu tun, was nur wenige unter uns vermögen: Neues zu schaffen und auf den Markt zu bringen, von dem wir nicht einmal geträumt haben. Dumm – ich kann es am Ende meiner welthistorischen Abschweifungen nicht lassen – ist es deshalb auch, solche Leute mit hohen Steuern zu belasten und zu vertreiben. Die Steuerreform hätte die Unternehmenssteuern nicht senken sollen, sondern ganz abschaffen. markus.somm@baz.ch
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