Eine geballte Ladung Forschung
Die WSL beobachtet Wald und Landschaft seit Jahrzehnten. Sie verfügt dadurch über einzigartiges Wissen. Wissen, für das sich auch das Ausland interessiert – und das sich verkaufen lässt.
Von Helene Arnet (Text) undDoris Fanconi (Bilder) Beat Wermelinger mag diesen Käfer mit den unglaublich langen Fühlern. Trotzdem lässt er dessen Artgenossen ertrinken. Im Dienst der Wissenschaft. Der Käfer ist ein Zimmermannsbock und Wermelinger Insektenforscher an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Er findet gerade heraus, wie sich die Klimaerwärmung auf Föhrenschadinsekten – und damit auf den Wald – auswirkt. Wir sind auf Stippviste durch die WSL in Birmensdorf: Sie wurde vor 125 Jahren als «Centralanstalt für das forstliche Versuchswesen» gegründet. Der Bund reagierte damals auf die stark übernutzten und geschädigten Wälder. Heute arbeiten bei der WSL rund 500 Mitarbeitende in 16 Forschungsabteilungen. Seit 1989 gehört auch das Schnee- und Lawinenforschungsinstitut in Davos dazu. Virtueller Waldspaziergang Der Zimmermannsbock zetert hörbar, als ob er sich darüber ärgern würde, dass er nicht weiter im Mittelpunkt des Interesses steht. Ab ins Sammelglas, wo es ihm alleweil besser geht als seinen Artgenossen, die leblos in einer Insektenfalle schwimmen. Sie schlüpften aus einem der Föhrenstämme, den Wermelinger aus einem Trockengebiet des Aostatals nach Birmensdorf brachte, um zu beobachten, wie viele und welche Insekten diesen befallen haben. Projekte wie Wermelingers Untersuchungen zur Walddynamik machen laut WSL-Mediensprecher Reinhard Lässig noch heute rund die Hälfte der Forschungsansätze aus. Die langjährige Waldbeobachtung bescherte der WSL eine international fast einmalige Grundlage, um die Veränderungen, die im Wald vor sich gehen, zu erforschen. Lucinda Laranjeiro und Esther Thürig sehen allerdings nicht aus, als ob sie oft in schweren Schuhen durchs Gehölz stapfen würden. Sie sitzen locker mit Sonnenbrille vor einem Bildschirm. Und doch machen sie Waldforschung. Die vermeintliche Sonnenbrille ist eine spezielle 3-D-Brille, die ihren Trägern Luftbildaufnahmen der Schweiz dreidimensional simuliert und erst noch Nadelbäume rot und Laubbäume bläulich einfärbt. Sie erfassen landesweit stichprobenweise alle Waldstücke, vermerken die Höhe der Bäume und beliefern mit ihren Daten das Wald- und Kohlenstoffinventar, das im Zusammenhang mit den Kyoto-Protokollen steht. Sie helfen abzuschätzen, wie viel Kohlenstoff im Schweizer Wald gespeichert ist. Auch bei Maria Schmitt und Anna Brechbühl geht es um Kohlenstoff, doch nicht am Computer. In ihrem Büro stapeln sich Laubsäcke, Streu, das sie das Jahr durch auf Testflächen einsammeln und trocknen. Die Nadeln, welche Anna Brechbühl mit einer Pinzette säuberlich trennt, sehen für uns alle gleich aus – für sie nicht: links Rottanne, rechts Weisstanne. Sie sortiert auch die verschiedenen Blätter, Samen und Früchte. Aus der Zusammensetzung der Streu gewinnen sie Informationen über die Reaktion des Waldes auf Umweltfaktoren wie etwa eine Verschiebung des Nadelabwurfs oder eine erhöhte Produktion von Früchten als Folge der Hitzeperiode 2003. Begeistert bei minus 20 Grad Die WSL hat sich in den letzten Jahren stark international ausgerichtet. Selbst die Muttersprache des derzeitigen Direktors James Kirchner ist Englisch. Und dass wir Christoph Scheidegger in seinem Büro antreffen, ist geradezu erstaunlich, arbeitet der Biologe doch fast überall auf der Welt. So streift er im hintersten Russland durch die einstige Gefangeneninsel Sachalin und sucht nach «seiner» Flechte. Die Lungenflechte hat es ihm so angetan, dass seine Begeisterung selbst im minus 20 Grad kalten Archiv nicht abkühlt, in dem er seine gut 20?000 Lungenflechtenproben aufbewahrt. Deren genetische Untersuchungen erlauben Rückschlüsse auf Klima- und Lebensraumveränderungen. Und wohin wandern die Bäume, wenn sich das Klima erwärmt? Die Hängebirke wandert in den Norden, zeigt Eliane Meier. Genug schnell, dass ihr Bestand kaum Schaden nimmt. Die behäbigere Buche kann dagegen, laut ihren Simulationen, schlecht mithalten. Sie wird einen schweren Stand haben. Auch Holger Gärtner, Alexander Bast und Magdalena Nötzli beschäftigt der Klimawandel, den sie mit Jahrringforschung aufzeigen wollen. Sie untersuchten im Val Bever dendrochronologisch 300 Jahre alte Bäume, die auf Permafrostböden wachsen, und entdeckten Verblüffendes: Bis 1870 halten sie mit Referenzbäumen von nicht gefrorenen Böden mit, dann bricht ihr Wachstum plötzlich ein. Damit können die WSL-Forscher erstmals belegen, dass unter gewissen Bedingungen auch nach Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 neue Permafrostinseln entstanden sind. Seit den 90er-Jahren rückt an der WSL die Landschaft als Ganzes ins Zentrum – und damit Probleme des ungebremsten Landschaftsverbrauchs. Das Team von Felix Kienast und Jochen Jäger kann Zahlen und Karten zur Zerschneidung und Zersiedlung der Landschaft liefern. Ihr Fazit: «Die Zersiedlung der Landschaft steigt und steigt.» Verdichtetes Wohnen findet hauptsächlich in städtischen Gebieten statt, aber kaum in den Siedlungskernen auf dem Land. Im Gegenteil: Dort entstehen noch immer mehr zerstreute Siedlungen, in denen nur wenige Leute wohnen. Diese jüngst erschienene Analyse ist im Hinblick auf die Landschaftsinitiative und das Raumplanungsgesetz bedeutsam und interessiert auch das Ausland. Das Team ist von der Europäischen Umweltbehörde in Kopenhagen beauftragt worden, Zerschneidungskarten für die ganze EU zu erstellen. Aussagekräftige Reh-Ohren Sabine Brodbeck holt Reh-Ohren aus dem Kühlschrank. Pelzige, abgeschnittene Reh-Ohren, welche ihr Jäger und Förster zukommen liessen. Rolf Holderegger und sie untersuchten, wieweit die Rehe, die zu diesen Ohren gehörten, miteinander verwandt waren, denn sie besiedelten ein von zwei Autobahnen und der Aare zerschnittenes Gebiet bei Aarau. «Sind diese Hindernisse überwindbar für die Tiere?», will der Aargau im Hinblick auf eine Sanierung der Strassen wissen. Das Ergebnis ist so klar, dass es Holderegger fast peinlich ist. «Als ob wir geschummelt hätten.» Die Aare ist durchlässig, die Autobahn ein Riegel. Mit Kugeln Steinschlag spielen Axel Volkwein spielt mindestens so gerne mit Murmeln oder Bocciakugeln wie seine Kinder. Nur stellen diese für ihn Steine dar, die den Berg hinunterkullern. Der Ingenieur simuliert am Computer und im Modell Steinschläge und Murgänge, um in Zusammenarbeit mit der Industrie taugliche Netze und Schutzvorrichtungen zu entwickeln. Berührungsängste mit der Wirtschaft hat die WSL abgelegt. Forschung darf durchaus so praxisorientiert sein, dass sie sich vermarkten lässt. Auch Sozialwissenschaften werden einbezogen: Stefanie von Felten arbeitet beim Projekt «Alpfutur» mit und will herausfinden, wie es um die Sömmerungsweiden in der Schweiz steht. Nicht so schlecht: Zwar geht die Alpwirtschaft in abgelegenen Gebieten zurück, dafür floriert sie in gut erreichbaren. Von Feltens Abhandlung impliziert auch eine Warnung an die Wanderer: Die Mutterkühe, die es gar nicht mögen, wenn man ihnen und ihren Kälbern zu nahe tritt, nehmen auf der Alp zu. Zum Schluss zurück zu den Wurzeln. Zu jenen Wurzelballen, die Marco Walser mit einem für Bodenproben spezialisierten Bohrgerät zutage fördert. Bodenwissenschaftler Peter Lüscher will wissen, wie schwer Spuren von Forstfahrzeugen den Waldboden beeinträchtigen oder gar schädigen. Er kann seinem Kollegen Oliver Thees, der sich um ökonomische und ökologische Holzproduktion kümmert, klipp und klar Auskunft erteilen, welche Art von Fahrspuren bei der Holzernte vermieden werden sollten – etwa die mit möglichst wenig Luft im Reifen. Wahrlich: Niemand kann dieser Forschung vorwerfen, dass sie im Elfenbeinturm stattfindet. Weiterer Bericht Seite 38 Ein Mitarbeiter der WSL durchkämmte auf der Suche nach «seiner» Flechte eine russische Gefangeneninsel. Marco Walser nimmt im Ramerenwald Bodenproben, um herauszufinden, wie schwer Fahrspuren den Waldboden schädigen. Vielfältige Forschung: Bocciakugeln, um den Steinschlag zu simulieren; Dendrochronologie, um dem Permafrost auf die Spur zu kommen; Streu sortieren, um die Reaktion des Waldes auf Hitzeperioden zu analysieren.
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