Krimi der WocheEin Verbrecher alter Schule
Garry Disher zum Zweiten: Wenige Wochen nach dem Polizeiroman «Barrier Highway» liegt jetzt die brillante Gangstererzählung «Moder» des australischen Altmeisters vor.

Der erste Satz
Wyatt hatte sich in diesem Jahr in Sydney niedergelassen.
Das Buch
Nicht dass früher alles besser gewesen wäre. Aber für Wyatt war manches einfacher. Die Zeiten, in denen der professionelle Räuber einen Lohngeldtransporter überfallen konnte, sind Geschichte. Grössere Mengen Bargeld sind kaum noch unterwegs. Wyatt stiehlt nun hier ein Bild, dort ein paar wertvolle Sammelstücke. Sachen, die er bei Hehlern zu Geld machen kann. Das Gute daran ist für den Einzelgänger, dass er sich dafür nicht mit Komplizen zusammentun muss, die sich dann als unzuverlässige Amateure oder risikofreudige Idioten erweisen oder gar als hinterlistige und gierige Gegner. Das Schlechte: Es kommt kaum mehr genug Geld herein, um ausserhalb des Gesetzes einigermassen sicher leben zu können. Wyatt braucht wieder einmal einen grossen Coup.
Kaum ist der australische Altmeister Garry Disher mit seinem ruralen Polizeiroman «Barrier Highway» (lesen Sie hier die Buchkritik) auf den Spitzenplatz der monatlichen Krimibestenliste für den deutschsprachigen Raum vorgestossen, ist auch ein neuer Wyatt-Roman des brillanten Erzählers erschienen: «Moder». Während in seinen anderen Kriminalromanen Polizisten die Helden sind, ist in der nun neun Bände umfassenden Wyatt-Reihe der Verbrecher der Held. Beziehungsweise der Antiheld.
«Moder» ist ein schönes Beispiel für Kriminalliteratur, die sich mit gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzt.
Wyatt ist ein analoger Mann, der in einer zunehmend digitalisierten Welt seinen Weg suchen muss. Er ist ein Handwerker, der sein Metier mag und es so gut wie möglich ausübt. Er hält sich durchaus an Regeln, aber nur an seine eigenen. Er plant minutiös, macht alles, um mögliche Risiken gar nicht entstehen zu lassen. Jetzt ist er am Anlagebetrüger Tremayne dran, der nach dem sogenannten Ponzi-Schema, einem Schneeballsystem, gutgläubige Anleger abgezockt hat. Sein Partner sitzt hinter Gittern. Tremayne, so der Tipp, den Wyatt aus dem Gefängnis erhielt, hat irgendwo viel Bares gebunkert und wird sich absetzen, wenn sich die Schlinge um seinen Hals zuzieht.
Nicht nur Wyatt ist hinter Tremaynes geheimem Schatz her. Zudem gerät Wyatt selbst ins Visier von Verfolgern. Ein Afghanistan-Veteran will an seine versteckten Beutegelder. Und ein cleverer Polizist kommt dem einsamen Wolf auf die Spur. Das alles führt zu Komplikationen, die auch Wyatt nicht ohne Blessuren übersteht.
«Moder» ist ein schönes Beispiel für die moderne Kriminalliteratur, die sich intelligent mit sozialen und gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzt. Und dies – im Gegensatz zu anderen Büchern, die das auch tun –, ohne schulmeisterlich zu dozieren und wohlfeil zu moralisieren. Sondern, wie hier, in Form eines harten, schlauen, spannenden und auch vergnüglichen Räuberstücks.
Die Wertung
Originalität ★★★★★
Spannung ★★★★☆
Realismus ★★★★☆
Humor ★★★★☆
Gesamteindruck ★★★★★
Der Autor
Garry Disher, geboren 1949 in Burra, South Australia, ist auf einer Farm in Südaustralien aufgewachsen und wollte schon als Kind Schriftsteller werden. Er studierte zunächst Geschichte an der Adelaide University und bereiste dann Europa und Afrika. Nach der Rückkehr schrieb er eine Masterarbeit an der Monash University. Gleichzeitig begann er Kurzgeschichten zu schreiben, und er erhielt ein Stipendium für ein Creative Writing Fellowship an der Stanford University. Während vieler Jahre lehrte er in Melbourne neben seiner schriftstellerischen Arbeit kreatives Schreiben.
Inzwischen ist er längst einer der bekanntesten australischen Schriftsteller. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht. Neben Kriminalromanen sind das andere Romane, Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher zur Geschichte Australiens und über das Schreiben. 1996 wurde sein Roman «The Sunken Road», der auf Deutsch nicht erschienen ist, für den Booker Prize nominiert.

Zu Dishers Krimis zählen insbesondere zwei herausragende Serien, eine dritte kam jüngst dazu. Im Roman «Barrier Highway» (Original: «Consolation», 2020), der vor wenigen Wochen auf Deutsch erschienen ist, tritt bereits zum dritten Mal Paul «Hirsch» Hirschhausen auf, nach «Bitter Wash Road» (2013; Deutsch unter dem gleichen Titel 2016 erschienen) und «Hope Hill Drive» (2020; Original: «Peace», 2019; alle im Zürcher Unionsverlag). Sieben Bände umfasst die Serie mit Inspector Challis (Deutsch ebenfalls im Zürcher Unionsverlag). In der 1991 gestarteten Reihe um den Berufsverbrecher Wyatt (Deutsch im Berliner Kleinverlag Pulp Master) ist jetzt der neunte Band erschienen.
Mehrere von Dishers Krimis waren auf der Shortlist für den Ned Kelly Award, den wichtigsten Krimipreis Australiens, den er für zwei Bücher und schliesslich auch für sein Gesamtwerk gewann. Seine Bücher erscheinen auch in den USA und in Grossbritannien und wurden in mehrere andere Sprachen übersetzt. Vor allem im deutschen Sprachraum sind sie sehr erfolgreich.
Garry Disher lebt auf der Halbinsel Mornington südöstlich von Melbourne im australischen Bundesstaat Victoria.

Garry Disher: Moder. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2021. 302 S., ca. 22 Fr.
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