Ein übermässig strenges Urteil
Ein Gericht zieht den Persönlichkeitsschutz einer Möchtegern-Astronautin der Kritikaufgabe der Medien vor. Das Urteil wirft Fragen auf.

Nun liegt das 50-seitige schriftliche Urteil vor: Am 24. Oktober hatte das Bezirksgericht Zürich TA-Redaktor Maurice Thiriet der üblen Nachrede zulasten der Physiklehrerin Barbara Burtscher schuldig gesprochen. Tamedia wird das Urteil, das grundsätzliche Fragen aufwirft, an das Obergericht weiterziehen.
«Befremdlich» findet Tamedia-Jurist Simon Canonica die Abwägung zwischen den Rechtsgütern, die das Gericht vorgenommen hat. Auf der einen Seite steht die Ehre einer jungen Physiklehrerin, die zwischen Sommer 2009 und August 2010 die (unberechtigte) Hochlobung in den Medien zur künftigen Astronautin zugelassen hatte. Auf der andern Seite geht es um die Wächteraufgabe freiheitlicher Medien, aus der heraus der Redaktor die Astronautenlegende der Lehrerin demontieren wollte. Canonica: «Das Gericht hat unseres Erachtens einseitig zugunsten der jungen Physikerin geurteilt.»
Streit um «Hochstaplerin»
Im Strafrecht ist nur der Ruf geschützt, ein «ehrbarer Mensch» zu sein – also nicht der Ruf eines guten Berufsmanns oder Politikers; dafür muss man zum Zivilrichter. In der Darstellung dieser und anderer Rechtsgrundlagen ist dem Bezirksgericht beizupflichten.
Dann aber kommt der Schlüsselausdruck «Hochstaplerin» zur Sprache – eine Zeile in Thiriets Text. Das Gericht zitiert die Sprachbibeln Duden und Wahrig. Aus den vielen Umschreibungen klaubte die Klägerin Burtscher ihre Quintessenz heraus, Thiriet stelle sie als Betrügerin dar, die andere arglistig irreführe. Man findet in den Sprachbibeln auch Harmloseres zur Vokabel «Hochstaplerin»: Prahler, Grosstuer, Aufschneider usw. Aber das Gericht sah überall «etwas Negatives», «schlechten Charakter», und zwar mit Berufung auf ein Bundesgerichtsurteil der frühen 50er-Jahre.
«Träumerin» auf dem «falschen Weg»
Es hätte auch ein jüngeres Bundesgerichtsurteil nachschlagen können: «Rote Anneliese», 9. März 2009. Wo verschiedene Interpretationen möglich seien, dürfe nicht leichthin angenommen werden, der Autor habe gerade die bösartigste gemeint, heisst es dort. Von «Betrug» und «Arglist» ist in Thiriets Artikel nirgends die Rede. Mehr noch: Hätte das Gericht die «Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert» konsultiert («Felix Krulls Erben», Göttingen 2008), wäre es auf ein Zitat von Thomas Mann gestossen: Als knapp 70-Jähriger erinnere er sich an fantasiereiche Jugendspiele: «Was ich treibe, ist eine Art von harmloser Hochstapelei, die mir dient, die Grösse praktisch auszuprobieren, mich in traulichen Wissenskontakt mit ihr zu bringen.»
Genau das versuchte Burtscher eine Zeit lang. Astrophysikerin war sie laut Bachelor-Diplom der ETH zwar, Astronautin aber bei weitem nicht. Sondern freiwillige Ausbildnerin in einer museumsähnlichen Veranstaltung des Staats Alabama auf dem weiten Nasa-Gelände. Zweifellos strebte sie an, später in einen richtigen Nasa-Kontext zu gelangen. Der Schweizer Astronaut Claude Nicollier nannte sie deshalb eine «Träumerin» auf dem «falschen Weg».
Das Internet offenbart zahllose Medienmitteilungen über Burtscher und von Burtscher, Auftritte in allen Medien, von Burtscher gegengelesene Artikel, in denen sie sich als «unsere Frau bei der Nasa», als «Instruktorin im Nasa Education Center» – das es nicht gibt – vorstellen liess. Das Bezirksgericht Zürich schreibt, sie müsse viele Aussagen mitverantworten, die «unzutreffend oder nicht realistisch» seien. Zu Recht weist es den sorglos mitplappernden oder glorifizierenden Medien vielleicht entscheidende Mitwirkung zu.
Andauernde Selbsterhöhung
Und wo bleibt Thiriets Verschulden? Er hat die Unstimmigkeiten in Burtschers Saga eruiert. «Unfair erscheint dagegen, dass er der Klägerin den Artikel nicht mehr zum Gegenlesen gab», schreibt das Gericht. Das verlangt der Journalistenkodex allerdings nicht, zumal Thiriets Unterlagen grösstenteils archivierte Medienzitate waren. Dazu kommt, dass er auch Positives über Burtscher in den Text einbaute. Warum räumte er entgegen der Abmachung «nicht noch einen Tag ein, um weitere Dokumente entgegenzunehmen»? Weil die Klägerin nach dem Gespräch, nunmehr aufgeschreckt, ein Communiqué versandte, sie ziehe sich aus den Medien zurück und bitte, sich nicht bei Kleinigkeiten wie ungenauen Bezeichnungen in früheren Aussagen aufzuhalten.
Das liess Thiriet befürchten, am nächsten Tag breche die Hölle los. Hätte Thiriet späte, eher bescheidener anmutende Aussagen, etwa in einem Interview bei «Aeschbacher», stärker gewichten müssen? Vielleicht. Aber dem stand die Masse der lange andauernden Selbsterhöhungen in allen Medien entgegen. Wie schrieb das Bundesgericht im Entscheid «Rote Anneliese»: «Verhältnismässig unbedeutende Übertreibungen und Ungenauigkeiten sind unerheblich.» Von daher ist der Urteilskern, Thiriet sei sowohl der Wahrheitsbeweis wie der Gutglaubensbeweis misslungen, übermässig streng. Immerhin hatte er einen Ballon der Selbst- und Fremderhöhung aufgestochen.
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