Ein Land ausser Kontrolle
Wahrscheinlich kommt in Argentinien bald der Linke Alberto Fernández an die Macht. Die Reaktion der Märkte ist ebenso gefährlich wie jene des amtierenden Präsidenten Macri.

Drei Nächte und zwei Tage voller Entsetzen, Wut und Trotz mussten vergehen, ehe Mauricio Macri einsah, dass der einzige schmale Pfad zu einer zweiten Amtszeit über Canossa führt. Am Mittwochmorgen erschien Argentiniens Präsident live im Fernsehen, um sein Volk offen um Vergebung zu bitten für sein Benehmen seit Sonntagabend.
Nachdem bekannt geworden war, dass Macris Koalition «Juntos por el cambio» bei den allgemeinen Vorwahlen 15 Prozentpunkte weniger erzielte als das Oppositionsbündnis um die frühere Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, hatte sich der 60-Jährige nicht wie ein Staatschef benommen, sondern wie ein 16-jähriger Trotzkopf aus einem Internat für Millionärssöhne.
«Wir gehen schlafen»
Um 22.11 Uhr am Sonntagabend trat Macri vor seinen Anhang und sagte: «Wir hatten eine sehr schlechte Wahl.» Ohne seine Schmach in Zahlen zu kleiden und ohne ein Wort der Gratulation an die Wahlsieger verlangte der Präsident: «So, nun gehen wir alle schlafen, morgen werden wir den Kampf wieder aufnehmen.»
Wie wenig aussichtsreich dieser freilich ist, manifestierten die Werte, die weitere 18 Minuten später bekannt wurden: etwa 47 Prozent für das Oppositionsbündnis «Todos» und um die 32 Prozent für die Regierungskoalition «Juntos por el cambio». Solch einen Riesenabstand hatte kein Demoskop vorausgesagt. Die «allgemeinen und verpflichtenden Vorwahlen» sind inzwischen nicht viel mehr als ein nationaler Stimmungstest zehn Wochen vor dem wahren Wahltag. In diesem Jahr hatte vor allem die Finanzwirtschaft diesen Urnengang genau im Auge. Eine Protestwahl gegen Macris Sparpolitik war erwartet worden. Aber kein K. o. vor der ersten Runde. «Geschockt» sei er gewesen und «unausgeschlafen», erklärte Macri bei seinem mea culpa am Mittwoch. Den Schlaf dürfte ihm vor allem die Reaktion der Finanzmärkte geraubt haben.
Um 48 Prozent fielen am Montag die Kurse an der Börse von Buenos Aires. Es war der zweitgrösste Crash der Geschichte aller Finanzplätze der Welt. In New York explodierten die Prämien für Versicherungen, die einen Staatsbankrott absichern. Das Risiko für einen erneuten Zahlungsausfall des Landes beziffert Wallstreet nun auf 75 Prozent. Und: Der Peso stürzte nochmals ab. Es war der dritte heftige Verlust binnen 16 Monaten. Im April 2018 bekamen die Argentinier für eine Dollarnote 20 Pesos. Gestern mussten sie 60 Pesos für einen Dollar zahlen.
Der tiefschwarze Montag schockte nicht nur Macris Anhänger, sondern auch dessen Gegner.
Nur: Wer hat überhaupt noch Pesos? Seit Argentinien vom internationalen Währungsfonds (IWF) im vorigen August den grössten Notfallkredit in dessen Geschichte bekam, versucht die Notenbank, mit aberwitzigen Zinssätzen die Pesos aufzusaugen. So soll verhindert werden, dass Investoren ihre Anlagen in Dollar tauschen, die das Land kaum noch besitzt, seit Finanzanleger im April 2018 Reissaus nahmen.
Nach diesem tiefschwarzen Montag waren nicht nur Macris Anhänger geschockt, sondern auch dessen Gegner, die am Sonntag noch ausgelassen gefeiert hatten. Als die ersten Supermärkte schon ihre Preise um 10, 15, 20 Prozent anhoben, breitete sich Entsetzen aus, und Erinnerungen an die Hyperinflation 1989 und den Staatsbankrott 2001 wurden wach. TV-Kommentatoren flehten den Präsidenten an, den Wahlkampfmodus zu beenden und das Land zu beruhigen.
Doch während die Kurse verfielen, gab Macri die Schuld trotzig der Opposition und jenen, die für deren Kandidaten Alberto Fernández gestimmt hatten. «Seit dreieinhalb Jahren predige ich, dass die Kirchneristas an den Finanzplätzen keinerlei Kredit geniessen.» Was Macri für eine Rechtfertigung hielt, war eine Ohrfeige für fast die Hälfte der argentinischen Wähler. Statt sein Land zu besänftigen, schien er dessen Spaltung vertiefen zu wollen. Anderntags urteilte die «Financial Times»: «Macri ist ausser Kontrolle.»
Verheerende Reaktion
Die Reaktion des Präsidenten sei wohl noch verheerender als die wahrscheinliche Wiederwahl eines Wahlbündnisses um Cristina Kirchner. Mehr als zehn Strafverfahren hat die Ex-Präsidentin am Hals, die meisten drehen sich um Korruption. Aber in einem, in dem es um die Vertuschung des folgenschwersten Attentats der Landesgeschichte geht, lautet der Vorwurf Hochverrat.
Ehe Macri im Vorjahr die Kredite ausgingen, schien eine Rückkehr der Linksperonisten unmöglich. Kirchner schützte allein ihre Immunität als Senatorin. Doch die Not wurde zum Nährboden für ein Bündnis aus weiten Teilen des lange zerstrittenen peronistischen Bogens, in das sich auch mehrere andere linke Kleinparteien einklinkten. Den entscheidenden Impuls lieferte freilich Cristina Kirchner, als sie im Mai in einer Videobotschaft verkündete, ab Dezember Argentiniens Vizepräsidentin werden zu wollen. Kirchners Kandidat für die Staatsspitze ist seither Alberto Fernández, der ab 2003 Néstor Kirchners Kabinettschef war und 2008 im Streit ging. Danach übte er bittere Kritik an Kirchners autoritären Ausfällen gegenüber den Medien und deren Wirtschaftskurs mit Verstaatlichungen und Devisenkontrollen. Erst angesichts der Krise im Vorjahr fanden die beiden wieder zusammen. «Niemals wieder werde ich mich mit Cristina streiten!», rief Fernández vorige Woche beim Wahlkampfschluss in Rosario.
Während nun Investmentstrategen und Leitartikler spekulieren, wie viel «Cristina» in einer wahrscheinlichen «Regierung Alberto» stecken könnte, errechnete Macris Wahllabor, dass noch eine kleine Chance bestehe, am 27. Oktober zumindest eine Stichwahl im November zu erzwingen. So erklärt sich Macris Mässigung am Mittwoch. Diese beinhaltete auch ein paar Steuergeschenke, vor allem für die gebeutelte Mittelklasse und Kleinbetriebe. Zudem hoffen einige in Macris Lager, dass die Reaktion der Börsen einen Teil der Protestwähler dermassen erschreckt haben könnte, dass sie am Wahltag nicht wieder dem Kirchner-Bündnis ihre Stimme geben.
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