Die künftige Cern-StrategieEin kleiner Schritt zur grossen Weltmaschine
Die europäischen Teilchenforscher fokussieren auf die Entwicklung der nötigen Magnettechnologie, nicht auf einen konkreten neuen Beschleuniger.

Jetzt, wo die Welt im Corona-Krisenmodus steckt, wäre es vielleicht etwas taktlos, die konkrete Planung und den Bau eines bis zu 28 Milliarden Franken teuren Teilchenbeschleunigers anzukündigen. Vielleicht deshalb, aber wohl auch, weil es noch zu früh ist, sich auf eine künftige Weltmaschine zu einigen, haben die europäischen Teilchenforscher noch keine Nägel mit Köpfen gemacht.
Dennoch wird in der nun vom Cern Council – dem höchsten Gremium der europäischen Teilchenphysik – verkündeten Strategie klar, wohin die Reise gehen soll: Die grösste Priorität liegt auf dem Bau einer sogenannten Higgs-Fabrik. Als Nachfolger des aktuell weltgrössten Beschleunigers, des Large Hadron Collider (LHC) am Cern bei Genf, soll diese Higgs-Fabrik dereinst Elektronen und deren Antiteilchen, die Positronen, zusammenprallen lassen. Damit liesse sich insbesondere das 2012 am Cern entdeckte Higgs-Teilchen im Detail studieren. Zudem sei es mit einer Higgs-Fabrik möglich, indirekte Hinweise auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu suchen.
Mehrere Konzepte für die nächste Entdeckungsmaschine
Gegenwärtig wird der LHC am Cern zum sogenannten High Luminosity LHC (HL-LHC) ausgebaut. Obwohl dieser noch bis circa ins Jahr 2038 laufen soll, fassen die Physiker bereits jetzt die nächste grosse Maschine ins Auge. Denn deren Planung benötigt Zeit. Ungefähr mit dem Ende des HL-LHC oder wenige Jahre danach könnte eine Higgs-Fabrik am Cern in Betrieb gehen. Dafür liegen mehrere Konzepte auf dem Tisch, insbesondere der Future Circular Collider (FCC) mit einem Kreisumfang von 100 Kilometern und der Compact Linear Collider (CLIC), der in verschiedenen Ausbaustufen zwischen 11,4 und 50,1 Kilometer lang wäre.

Eine andere «wichtige Empfehlung» der europäischen Strategie bezieht sich auf die Untersuchung der Machbarkeit einer noch stärkeren Maschine als der Higgs-Fabrik, einem sogenannten Hadronen-Collider, der aber erst weit nach 2040 in Betrieb gehen könnte. Darin sollen dereinst statt Elektronen und Positronen die viel schwereren Protonen aufeinanderprallen, wie heute am LHC. Ein solcher Hadronen-Beschleuniger ist zwar nicht so präzise wie ein Elektron-Positron-Collider, kann aber viel höhere Energien erreichen. Damit würde das Entdeckungspotenzial maximiert.
Das gibt implizit einen Hinweis, dass die Reise in Europa wohl eher in Richtung des FCC gehen könnte als in Richtung von CLIC. Denn im FCC können in einer ersten Ausbaustufe im Sinne einer Higgs-Fabrik Elektronen und Positronen kollidieren, in einer zweiten Ausbaustufe oder sogar direkt die Protonen im Sinne einer Entdeckungsmaschine.
«Sehr wichtig für uns ist das klare Bekenntnis zum Cern als Standort für einen künftigen Teilchenbeschleuniger.»
«Sehr wichtig für uns ist das klare Bekenntnis zum Cern als Standort für einen künftigen Teilchenbeschleuniger», sagt Rainer Wallny vom Institut für Teilchen- und Astrophysik der ETH Zürich. Er leitet das Swiss Institute of Particle Physics (Chipp) und ist in dieser Funktion massgeblich an der Strategie für künftige Teilchenphysik in der Schweiz beteiligt. «Das gibt der Teilchenphysik in der Schweiz eine klare Perspektive und sichert die Zukunft des Cern als eine führende Forschungseinrichtung der Welt.»
Das Chipp hatte sich klar für den FCC ausgesprochen. Das Cern Council möchte sich vorerst jedoch nicht auf ein konkretes Konzept festlegen, sondern setzt auf Technologieentwicklung und Machbarkeitsstudien, die ohnehin für jeden künftigen Beschleuniger nötig sind. «Wir unterstützen auch diese Strategie», sagt Wallny, «denn sie bietet die Option, die Pläne in den kommenden Jahren Schritt für Schritt zu präzisieren.»
Joachim Laukenmann ist Redaktor im Team Wissen. Seine Schwerpunkte sind Physik, Astronomie, Mobilität, Energie und Klimawandel. Er hat Physik studiert und in Kosmologie promoviert. 2008 erhielt er den Alstom Journalistenpreis. Er hat mehr als 20 Jahre Erfahrung im Wissenschaftsjournalismus.
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