Ein italienisches Mysterium
Pier Paolo Pasolini Der grosse Intellektuelle wurde vor 36 Jahren ermordet. Jetzt wird der Fall neu aufgerollt. Von Oliver Meiler Was hat er die Italiener nicht stimuliert, genervt, fasziniert! Ihnen den Spiegel vorgehalten, die Bigotterien der Bourgeoisie entlarvt, die Politik mit seinem Sinn für Polemik aufgemischt. Pier Paolo Pasolini, so viel kann man bei aller Streitbarkeit der Figur sagen, war einer der ganz grossen Intellektuellen im Italien des 20. Jahrhunderts: ein gnadenloser Gesellschaftskritiker, Querdenker und fiebriger Kunstschaffender. Er schrieb Gedichte, Reportagen, literarische Werke, bissige Essays, Liedertexte. Und er machte grosse Filme. Sein künstlerisches Erbe ist so reich und mächtig, seine Analyse Italiens so präzise und in Teilen noch so gültig, dass Pasolini in der Geisteswelt des Landes weiterlebt. Nun aber ist es wieder einmal sein Tod, der zu reden gibt. 36 Jahre nach seiner Ermordung kursieren neue Thesen und Gerüchte dazu, genährt von einem unveröffentlichten Kapitel seines brisanten letzten Buchs. Neue Zeugen wollen reden. Plötzlich. Sie schreiben den Thriller fort, diesen grossen italienischen Kriminalroman um dunkle Logen, Mafiosi, korrupte Politiker und Geheimdienste auf Abwegen. Der Mord an Pasolini zählt nämlich zu den «misteri d'Italia», den vielen Mysterien der letzten Jahrzehnte: Attentate mit obskurer Urheberschaft, Morde ohne ersichtliches Motiv, suspekte Selbstmorde und Unfälle. So viel ist klar: Pasolini wurde in der Nacht auf den 2. November 1975 in Ostia bei Rom ermordet. Mit 53 Jahren. Seine Mörder, und der Plural scheint ebenfalls gewiss, haben ihn zusammengeschlagen und dann mit seinem eigenen Auto überfahren. Verhaftet wurde aber nur ein halber Mann – ein Junge: Pino Pelosi, 17 Jahre alt. Pasolini hatte eine sexuelle Vorliebe für Jünglinge. Das hatte ihm Probleme mit der Justiz eingetragen – und diente seinen politischen Gegnern oft als Alibi bei ihren Attacken. Pasolini war stets überzeugt, dass man ihn wegen seiner Homosexualität töten würde. Pelosi war wahrscheinlich ein Lockvogel. Pasolini riss ihn am Römer Bahnhof Termini auf, lud ihn zum Abendessen ein, fuhr ihn an den Strand von Ostia. Dann soll er Pelosi zu Sex gedrängt haben, das jedenfalls sagte dieser vor Gericht. Man habe sich heftig gestritten. Pelosi gestand, Pasolini erschlagen zu haben. Er wurde trotz Ungereimtheiten verurteilt. 20 Jahre später widerrief er sein Geständnis. Und noch einmal 3 Jahre später erzählte er, sie hätten zu dritt gehandelt. Namen nannte er keine. Nun ermittelt Palermos Staatsanwaltschaft. Wie so oft, wenn Rätsel undurchdringbar scheinen, richtet sich der Blick auf die Cosa Nostra. Und in vielen Fällen war es ja auch so, dass sich Mafiosi als Mörder verdingen liessen. Die Frage ist aber: von wem? Die Ermittler interessieren sich für 74 nie veröffentlichte Seiten aus Pasolinis Enthüllungsbuch «Petrolio», die unlängst an einer Messe für alte Texte aufgetaucht und wieder verschwunden sind. Es war sein letztes Werk. Kurz vor seinem Tod ging Pasolini den mysteriösen Morden am Gründer des Ölkonzerns ENI, Enrico Mattei, und am sizilianischen Journalisten Mauro De Mauro nach, der Nachforschungen zu Matteis Tod angestellt hatte. Was wusste Pasolini über die unselige und korrupte Verstrickung zwischen der Politik und dem Milliardenkonzern? Wusste er zu viel? Was steht auf den ominösen 74 Schreibmaschinenseiten? Gibt es sie überhaupt? Es steckt noch viel Stoff in diesem Thriller, der schon 36 Jahre dauert, – verdächtig lange, wie so viele scheinbar unergründliche Mysterien Italiens.
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