Ein Bärendienst für die Populisten
Thilo Sarrazin stellt in seinem neuen Buch wichtige Fragen – zieht aber undifferenzierte Schlüsse.

Ich habe erst überlegt, ob ich diese Buchkritik schreibe oder nicht. Immerhin geht es hier um eine Rezension zu einem in bestimmten Teilen sehr fragwürdigen und auch manchmal ziemlich widersprüchlichen Buch.
Thilo Sarrazin ist eine Persönlichkeit, die viele Muslime (vor allem liberale wie mich) verärgert. Bereits 2010 hat Sarrazin mit seinem Buch «Deutschland schafft sich ab» viel mediale Aufmerksamkeit erregt, weil er bestimmten Ethnien einen geringeren Intelligenzquotienten nachsagte und er teilweise rassistisch argumentierte.
Sein neues Buch «Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht» knüpft mehr oder weniger an das Buch von 2010 an, weil er mit diesem seinen Fokus grösstenteils auf den Islam richtet. Der ehemalige Bundesbanker und Finanzsenator Berlins hat versucht darzulegen, inwieweit der Islam als eine gewalttätige Religion und politische Ideologie das Denken und Handeln von muslimischen Menschen weltweit beeinflusst und welche Gefahren sich in Europa im Hinblick auf Demografie und gesellschaftliches Zusammenleben daraus ergeben.
Würde er differenziert vorgehen, kämen wir sicherlich bei einigen Fragen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Leider tut er das nicht.
Leidet Sarrazin an Grössenwahn?
Sarrazin beansprucht für sich bereits im ersten Kapitel, die koranische Offenbarung erklären zu können und folgt dabei seinem «unmittelbaren Textverständnis», also einer buchstabengetreuen Lesart. An mehreren Stellen im Buch wird deutlich, dass diese Herangehensweise nicht funktioniert. So besteht das erste Kapitel aus einer willkürlichen Aneinanderreihung von verschiedenen Suren und Versen, die gewaltvolle Aussagen im Koran betreffen.
Ausserdem sind die Textstellen aus ihrem literarischen und historischen Kontext gerissen. Es wird also nicht gefragt, wie konkrete historisch-gesellschaftliche Situationen zur Offenbarung der Sure führten. Eine solche Lesart erinnert stark an jene von Salafisten oder Fundamentalisten: Denn auch Extremisten picken sich gerne bestimmte Suren und Verse heraus, um ihre politische Ideologie zu stützen.
Prinzipiell möchte man sich beim Lesen des Buches fragen, ob Thilo Sarrazin an Grössenwahn leidet. Denn er glaubt nicht nur, die koranische Offenbarung an sich darlegen zu können, sondern beharrt auch darauf, dass er in seinem Buch dem «Wesen des Islams» auf den Grund gehen werde. Auf derselben Seite heisst es: «Von daher versuche ich, das Spektrum der Deutungen des Islams aufzufächern, und untersuche näher, was Muslime unter dem Islam verstehen und wie der Islam die Lebenswelt, die Gesellschaften und die Mentalität der Muslime prägt.»
Sarrazins Lesart des Korans erinnert stark an jene von Salafisten oder Fundamentalisten.
Interessanterweise geht er auf das «Spektrum der Deutungen» überhaupt nicht ein, sondern bedient sich einer wortwörtlichen Lesart. Hier merkt man, dass es dem Autor nicht darum geht, ein diverses Spektrum des Islams mit unterschiedlichen Auslegungen und Praktiken darzustellen. Vielmehr scheint ihn nur eine Sache zu interessieren: Seine politische und islamfeindliche Agenda durchzuführen.
Dass der Islam, dem ich als gläubige Muslimin angehöre, etwa auch soziale und spirituelle Seiten hat, wird in Sarrazins Buch überwiegend ausser Acht gelassen, und genau deshalb kann ich diese stark verkürzte Sicht auf die koranische Botschaft nicht akzeptieren. Wenn die Interpretation Sarrazins den Kern des Korans ausmachen sollte, müsste es ja den «einen Islam» schlechthin geben. Das geht aber angesichts der vielen Islamverständnisse völlig an der Realität vorbei.
An späterer Stelle erkennt Sarrazin zwar eine historisch-kritische Lesart an, um aber im gleichen Atemzug zu sagen, dass man dadurch den Kern des Textes verbiegen müsste, was auch hier nah an einer konservativen Koranauslegung läge. Dadurch behauptet er ja, dass es sich beim Koran ausschliesslich um ein politisches Buch handelt. Es ist unstrittig, dass gewaltverherrlichende und auch diskriminierende Passagen gegen Andersgläubige beziehungsweise Nichtgläubige im Koran existieren und es Menschen gibt, die diese Textstellen wortwörtlich nehmen.
Nur weil Sarrazin sich nun als Koranexperte versteht und die Deutungshoheit über die Religion für sich beansprucht, heisst das nicht, dass auch alle Muslime diese Passagen wortwörtlich nehmen oder sich ausschliesslich an ihnen orientieren. Allerdings hat er sicherlich recht damit, dass konservative und fundamentalistische Koranauslegungen die Debatte um den Islam sowohl in der arabischen Welt als auch in Europa dominieren.
Angst vor der Überbevölkerung
Es befremdet mich aber, dass Sarrazin so tut, als gebe es keinen anderen Islam als den fundamentalistischen. Schliesslich kann man auch mit einer modernen Islaminterpretation gegen Islamismus vorgehen. Ebenso scheint er auch wenig Kenntnisse über Reformmuslime im Ausland zu haben, weil er glaubt, dass es bei den Reformmuslimen «sich zumeist um Publizisten und Islamwissenschaftler [handelt], die im Westen leben». Dass das nicht der Fall ist, zeigen der aufgeklärte Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid aus Ägypten oder die marokkanische Politologin Fatima Mernissi.
Natürlich darf auch in diesem Buch Sarrazins Lieblingsthema nicht fehlen: die Angst vor einer muslimischen Überbevölkerung, die er mithilfe von demografischen Analysen füttert. Anders als bei «Deutschland schafft sich ab» nimmt Sarrazin diesmal die Demografie in islamischen Ländern unter die Lupe. So konstatiert er der islamischen Welt eine «Bevölkerungsexplosion» und «hohe Geburtenraten».
Auch stellt er die Frage, wieso man etwa im Jahre 1970 in Kairo wenige kopftuchtragende Musliminnen sah, aber heutzutage dort ganz viele zu sehen sind. Seine Erklärung: die Teile der Gesellschaft, die nicht von der Modernisierung erfasst wurden, haben eine hohe Geburtenrate beibehalten. Im Gegenzug haben die moderneren Teile der Gesellschaft eine niedrige Geburtenrate.
Fehlendes Fachwissen
Diese Thesen zeigen ein weiteres Mal, dass Thilo Sarrazin nicht nur Überfremdungsängste schürt, sondern dass er zudem nicht genügend gut über politisch-historische Entwicklungen in der islamischen Welt Bescheid weiss.
So bekräftigt Sarrazin den Eindruck, dass die Islamisierung hauptsächlich ein demografisches Problem sei. Dabei leugnet er, dass es Islamisten waren, die ihre politische Ideologie in den 1970ern und den späteren Jahrzehnten stärker unter die Bevölkerung brachten und somit Teile der Gesellschaft islamistisch erfassen konnten. Anstatt bloss banale Erklärungen und Milchbüchli-Rechnungen anzustellen, wie es Sarrazin tut, sollte man sich lieber anschauen, wie diese Islamisierungen in der muslimischen Welt vorangetrieben wurden, wie ihre Ideologie in Umlauf gebracht und wie sie finanziell unterstützt wurden. Denn da gäbe es in der Tat einiges zu kritisieren und anzuprangern.
Bleiben wir bei den Frauen. Es steht ausser Frage, dass Frauen im Islam häufig eine eingeschränkte Rolle zugewiesen wird. Das können wir an der strengen Geschlechtertrennung unter konservativen Muslimen sehen, an den rigiden Forderungen der Verhüllung der Frau, an Genitalverstümmelungen oder an spezifischen Ehrvorstellungen in muslimischen Gemeinschaften. Ja, hier hat der Islam ein Problem. Dieses Problem liegt aber ursächlich nicht in der koranischen Offenbarung, sondern in den sehr mächtigen patriarchalen Strukturen muslimischer Gemeinschaften, die sich über Jahrhunderte verfestigt haben. Sie werden von vielen Muslimen als unumgängliche Tradition angesehen. Dabei berufen sich viele Muslime aber nicht auf Mohammed, sondern auf den zweiten Kalifen Omar.
Ganze Debatten um die Geschlechterfrage werden von Sarrazin schlicht ignoriert, weil er historische Fakten bei seiner Analyse ausser Acht lässt. So schreibt er: «Frauen wurden im Abendland nie auf ihre Geschlechterrolle beschränkt» (S.173). Nicht nur Feministen jeglicher Couleur, sondern auch Soziologen, Ethnologen und Historiker würden bei einer solchen Aussage auf die Barrikaden gehen. Dazu muss man sich nur die Kämpfe der letzten Hundert Jahre für Frauenrechte in Europa anschauen.
Mentale Unterschiede
Dessen ungeachtet gibt es, wie bereits angedeutet, in diesem Werk einen zentralen Gedanken: Die Angst vor einer muslimischen Überfremdung dominiert auch in diesem Buch die Argumentation von Sarrazin. Terrororganisationen, der sozioökonomische Status von Muslimen in Deutschland und in Europa, die Kriminalität und die Gefahren, die sich aus ihr ergeben – das alles sollen Gründe dafür sein, nicht noch mehr muslimische Menschen im Westen aufzunehmen.
Ursächlich macht Sarrazin die mentalen Unterschiede zwischen dem Westen und den Muslimen aus. Gleichzeitig warnt er vor einer Überbevölkerung sowohl in Deutschland wie auch in ganz Europa durch muslimische Menschen, die sich kontinuierlich fortpflanzen und diese bald die Mehrheit in Europa darstellen könnten – sollte man nicht die Mauern hochziehen. Das wichtigste Ziel der Aussen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik Deutschlands und Europas müsse demnach für Thilo Sarrazin lauten, «die vollständige Verhinderung von illegaler Einwanderung aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten» (S. 402).
Extremismus unter Einwanderern ist tatsächlich vorhanden. Es ist richtig, hier zu hinterfragen und zu kritisieren. Aber doch nicht, indem man die Mentalität aller eingewanderten Muslime über einen Kamm schert, sie mit extremistischen Fundamentalisten gleichsetzt und ihnen wegen ihrer Herkunft die Fähigkeit abspricht, sich gegen Extremismus zu entscheiden und sich zu integrieren.
Wessen es stattdessen dringend bedarf, ist die Vermittlung der Menschenrechte und Grundrechte unserer europäischen Verfassungen an die Menschen, die neu hierherkommen oder bereits hier leben. Bereits im frühen Kindesalter muss das vor allem in den Schulen passieren. Lehnen Menschen die Verfassung und diese Gesellschaftsordnung ab, steht es ihnen frei, wieder dahin zurückzukehren, wo sie ursprünglich hergekommen sind. Wir haben geltende Gesetze, die einfach nur konsequent angewandt werden müssen, auch gegen Menschen, die keinen rechtlichen Anspruch auf Asyl haben. Abgelehnte Asylbewerber nicht die Chance einzuräumen, bei Verwaltungsgerichten zu klagen, wie dies Sarrazin wünscht, würde gegen den Rechtsstaat sprechen.
Der Islam steckt in einer Krise
Die Aussage Sarrazins gegen Ende des Buches, dass man Probleme offen und ehrlich ansprechen sollte, kann ich selbstverständlich unterschreiben. Das Ansprechen von Problemen ist aber kein Freifahrtschein, um zu einem rassistischen Rundumschlag auszuholen und zu problematisieren, ohne Lösungen anzubieten.
Stattdessen hätte Sarrazin am Ende des Buches schreiben sollen, dass etwa die deutsche Islamkonferenz, die ein Teil der Lösung sein kann, neu aufgestellt werden müsste. Dass Politik und Verbände überlegen sollten, mit welchen muslimischen Vertretern sie einen europäischen Islam gestalten wollen und dass gegenüber religiösen Hardlinern eine klare Haltung gezeigt werden muss.
Es ist unbestreitbar, dass der Islam weltweit in einer Krise steckt und die Menschen sich in Europa zu Recht gegen eine politisierte Form der Religion zur Wehr setzen. Hier ist zweierlei nötig: eine deutliche Einforderung der Einhaltung europäischer Grundwerte an alle, die hier leben, und eine kritische, aber differenzierte öffentliche Debatte.
Sarrazins Buch aber giesst Öl ins Feuer der Unsachlichkeit und des Populismus und erweist der Debatte damit einen Bärendienst. Schade.
Seyran Ates, 55, ist eine deutsche Rechtsanwältin, Imamin, Autorin und Frauenrechtlerin türkischer und kurdischer Abstammung.
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