Eigentlich sind wir Hippiekacke
Bei jedem Städte-Ranking erscheint Zürich in den vordersten Rängen. Als Folge davon will die halbe Welt hier leben und sterben. Das nervt. Thomas Wyss schreibt einen offenen Brief an alle Ratingagenturen.
Es hörte sich an wie eine Vinylplatte mit Kratzer. Nummer?1. Nummer?1. Nummer?1. Nummer?1. Nummer?1. Nummer?1. Nummer?1. Keine Frage, Zürich war zwischen 2002 und 2008 die unbestrittene Wohlfühlhauptstadt der Welt. Mit der Zeit wurde das etwas monoton. Und doch war es für viele Bürger ein kleiner Schreck, als die internationale Beratungsfirma Mercer – sie untersucht und wertet jedes Jahr die Lebensqualität von 215 globalen Grossstädten – im April 2009 vermeldete, neue Top-City sei jetzt im Fall Wien, Zürich habe man auf Platz zwei zurückversetzen müssen. Weil bald darauf auch andere Ratingagenturen die Limmatstadt in der Lebensqualitätshitparade minim herabstuften, wuchs das Schrecklein zum Katzenjammer an; in politischen Amtsstuben und bei Zürich Tourismus kippte man den Gefahrenschalter auf «Alarmstufe Rot». Wie kurzsichtig! Rein theoretisch war dieses Downgrading der selbst ernannten «Downtown Switzerland» nämlich ein Segen. Was weniger gut ist, verliert an Anziehungskraft. Und was an Anziehungskraft verliert, ist weniger gefragt. Eine sehr simple (zugegeben, vielleicht eine etwas zu simple) Milchbüechligleichung. Auf Zürich angewendet, hiesse das: Die wilde Stampede aus Touristen, Pendlern und Neuzuzügern, welche die Stadt praktisch rund um die Uhr auf Trab hält, würde sich früher oder später in Staub auflösen. Die schöne Folge davon: Man müsste am Samstagmorgen nicht mehr schon um sieben beim Beck sein, um noch ein anständiges Zöpfli zu ergattern. Man würde in der Stammbar auch um 20.44 Uhr noch einen Sessel mit freiem Blick auf den Champions-League-TV bekommen. Es hätte wieder Logen, die nicht nur frei und hübsch, sondern auch bezahlbar wären. Und man dürfte gar mal verpennen, ohne dass man deswegen gleich die «Shit, nun hab ich den Job sicher an einen Deutschen verloren»-Paranoia bekäme (das war ein Scherz, wir verlieren vielleicht die Girls und Boys an die Deutschen, aber sicher nicht die Jobs). Basel ist doch auch ganz gäbig Was in der Theorie passt, funktioniert in der freien Wildbahn oft ganz anders. Oder gar nicht. Fakt ist: Trotz Platz 2 blieb Zürich in den Augen von Üsserschwiizern, Reisenden und ausländischen Arbeitskräften ein Eldorado; man wurde (und wird) den Eindruck nicht los, die halbe Welt wolle hier leben und sterben. Mit Verlaub: Oft nervt das ein wenig. Und manchmal sogar gewaltig. Basel ist doch irgendwie auch ganz gäbig. Und erst Luzern! Bern wirkt total heimelig. St. Gallen, auch sehr ordeli, hat den Stiftsbezirk, der gehört zum Weltkulturerbe der Unesco. Und wieso wird eigentlich Genf nicht genauso «annektiert» wie Zürich? Immerhin wurde die Rhonestadt von Mercer 2009 auf Platz 3 gesetzt. Es ist, wie es ist. Jammernde Jeremiaden erweichen allenfalls das Herz, Probleme lösen sie nicht. Gefragt sind Taten. Oder wenigstens deutliche Worte. Deshalb folgt hier nun ein offener Brief. Es ist ein sehr offener Brief, der an Mercer und andere nationale und internationale Ratingagenturen gerichtet ist und der ihnen die dunklen, schäbigen, tristen, peinlichen, unglamourösen und elenden Seiten unserer Stadt aufzeigen soll, die sie ja ganz offensichtlich nicht kennen – oder mindestens nicht wahrhaben wollen. Fliessen einige dieser Fakten in künftige Lebensqualitätsbewertungen mit ein, wird Zürich in kommenden Ratings irgendwo um Platz 47 auftauchen. Werden gar alle berücksichtigt, dürfte Le Locle den heuer errungenen Titel «Schweizer Stadt mit der tiefsten Lebensqualität» wieder los sein. Ein sanfter Denkanstoss Eine solche Entwicklung, das ist durchaus nachvollziehbar, würde weder Stadtpräsidentin Corine Mauch noch den Wirtschaftsbossen oder Zürich Tourismus Freude bereiten. Dass es tatsächlich so weit kommen wird, ist unwahrscheinlich. Und auch gar nicht das Motiv hinter dem offenen Brief. Es geht «bloss» um einen sanften Denkanstoss – und um eine bisweilen auftauchende Sehnsucht nach der etwas unaufgeregteren «Little Big City» früherer Tage. Der Brief. «Grüezi mitenand, kürzlich stand ich im Hof unseres Medienhauses und versuchte mich an der milchigen Herbstsonne ein wenig aufzuwärmen. Als ich so dastand, hab ich gesehen, wie ein in textile Lumpen gekleideter älterer Mann in den Aussenaschenbecher langte und eine Handvoll Zigarettenstummel rausholte. Dann grapschte er in der zerschlissenen Hose nach dem Feuerzeug, zündete sich einen Stummel an, die andern liess er in der Jacke verschwinden. Als der Stummel nach zwei Zügen nichts mehr hergab, zündete er den nächsten an. Ich wünschte, die Episode wäre erfunden, werte Bewerter, aber sie ist brutale Realität. ‹In dieser reichen Stadt ein solches Elend›, werden Sie sich jetzt fragen, ‹wie ist das möglich?› Das hab ich mich auch gefragt. Weil ich keine Antwort fand, wollte ich dem armen Kerl zehn Franken in die zittrige Hand drücken. Bis mir plötzlich einfiel, dass sich das in unserer Stadt ja gar nicht geziemt. Hier zeigt man kein Mitleid, am besten manifestiert man generell keine grossen Gefühle. Das wäre uncool. Hippiekacke. So heisst übrigens auch unsere inoffizielle Stadthymne. Pardon, ich drifte ab. Wobei nein, eigentlich bin ich ja in medias res, wie der Lateiner sagt. Denn hey, eigentlich ist es genau das, was wir sind, was unsere City darstellt: Hippiekacke. Wer in unserem schönen See tauchen geht, findet Müll und rostige Velos. Das Grossmünster ist bei weitem nicht die grösste Kirche im Land, die steht nämlich in Bern. Stellen wir die Miss Schweiz? Haben wir einen international erfolgreichen Fussballclub? Eine imposante Sportstätte? Eine global bekannte Rockband? Äääh . . . leider nein, sorry. Was wir dagegen zu bieten haben: den landesweit höchsten Kokaingehalt im Abwasser. Den Shoppingboulevard mit den siebthöchsten Mietpreisen der Welt. Den längsten Strassenstrich der Schweiz. Eine peinliche Fasnacht. Ein dünnes Satireheftli namens ‹Die Hauptstadt›. Den Übernamen ‹Die Baustelle an der Limmat›. Einen akuten Lehrermangel, der wohl bald dazu führt, dass sich unsere Chegelischüler das Einmaleins selbst beibringen müssen. Den plötzlichen Wahn, unseren architektonischen Minderwertigkeitskomplex mit wildem Wolkenkratzerbau zu kompensieren. Zu viel Anorexie und Bulimie. Die Rosengartenstrasse. Zu viele gestresste Männer. Und eine Menge gut besuchter Psychiater und Hellseher. Unser renommiertes Opernhaus – ich weiss, werte Bewerter, dass Sie daran viel Freude haben – kann nur überleben, weil jeder Sitz mit mehreren Hundert Franken subventioniert ist. Ach ja, kennen Sie übrigens den Marthaler? Den Theatergott? Den haben wir im Fall zum Teufel gejagt. Aber was anders. Haben Sie gewusst, weshalb bei uns nicht mehr Touris überfallen werden? Unsere Strassenräuber sind zu bequem, die melden sich lieber beim Fürsorgeamt. Hahaha, genau, das ist unser Lieblingswitz. Dass die Unfreundlichkeit unserer Taxidriver inzwischen genauso legendär ist, wie es einst der ‹Needle-Park› war, ist bekannt. Global weniger geläufig ist, dass unsere grössten Volksfeste, das Sechseläuten und die Street-Parade, mehr Pferdemist und Bierdosen als unvergessliche Impressionen hinterlassen. Dass unser Hausberg von einem selbstherrlichen Bündner regiert wird. Dass alles, was unser Online-Trendsetter Ron Orp empfiehlt, ohne zu murren, konsumiert wird. Und dass unsere SVPler ‹Hardliner› heissen, ist definitiv die Untertreibung des Jahrzehnts. Dafür hatten wir echt Glück, dass unsere zwei Gigabanken bei der letzten Immobilienkrise noch ‹too big to fail› waren. Ich weiss, das liest sich schlimm. Sehr schlimm. Aber wissen Sie, was wir dazu sagen? Genau: ‹Hippiekacke! Wir leben Zürich, wir rocken Zürich, wir rauchen Zürich – seit Mai übrigens nur noch draussen–, wir furzen Zürich, hu kärs, wird sind ja eh die Geilsten.› Und diese bornierte Attitüde, werte Bewerter, die ist das Schlimmste überhaupt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.» Das Downgrading der selbst ernannten «Downtown Switzerland» war rein theoretisch ein Segen. Was wir zu bieten haben: den landesweit höchsten Kokaingehalt im Abwasser. Und den längsten Strassenstrich. Lebensqualität dank Laub- und Müllbläsern? Dieser Krach müsste in jedes vernünftige Züri-Rating einfliessen. Foto: Keystone
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