Film «Passagiere der Nacht»Durch die Nacht mit Gainsbourg
Im Kinofilm mit der französischen Sängerin gelingt Regisseur Mikhaël Hers ein melancholischer Blick aufs Paris der Achtzigerjahre – mit Bildern, die wie impressionistisch hingetupft anmuten.

Versonnen streicht die junge Frau über den Streckenplan der Métro, auf dem Lichtpunkte die Stationen markieren und auf Knopfdruck zu leuchtenden Routen verbinden. Auf dem Rücken trägt sie einen grossen Rucksack. Talulah (Noée Abita) ist in Paris angekommen, sie ist sehr jung, eine Ausreisserin vielleicht. Aufbruchstimmung liegt in der Luft, auch auf den Strassen, wo die Menschen den Wahlsieg François Mitterrands feiern. Es ist der 10. Mai 1981, körnige Archivaufnahmen zeigen die Volksfeststimmung in der Stadt.
Eine schwebende Stimmung beschwört Mikhaël Hers gleich in den ersten Bildern seines Films herauf. Passagiere sind unterwegs, ohne selbst aktiv zu sein. Sie werden bewegt, was bequem, aber auch verunsichernd sein kann. Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) und ihre Kinder gleiten im Auto durch die Nacht, vorbei an tanzenden, feiernden Menschen. Zu Hause in ihrer Hochhauswohnung mit der breiten Glasfront und dem Blick auf die nächtliche Stadt hört Élisabeth ihre Lieblingsradiosendung: «Liebe Passagiere der Nacht...» Es spricht Emmanuelle Béart mit ihrer rauchig-markanten Stimme, sie hat später noch Kurzauftritte.
In Zeitsprüngen durch das Jahrzehnt der Möglichkeiten
«Passagiere der Nacht» durchmisst in mehreren Zeitsprüngen die Achtziger, dabei blickt Mikhaël Hers so nostalgisch wie melancholisch auf die Vergangenheit gewordene Moderne zurück: Was damals alles möglich zu sein schien! Vom Wahlabend 1981 springt der Film drei Jahre weiter. Élisabeths Sohn Mathias (Quito Rayon Richter) flitzt mit einem Freund um die Wette, er auf einem BMX-Rad, der Freund auf einem Mofa, die Kamera saust ausgelassen mit. Die Dynamik ist abrupt zu Ende, als Mathias zu Hause ankommt.
Seine Mutter Élisabeth ist gerade von ihrem Mann verlassen worden, hockt als Häufchen Elend auf dem Sofa. «Ich kann nichts», erklärt sie unter Tränen ihrem Vater, der sie ermuntert, sich einen Job zu suchen. Élisabeth hat nie richtig gearbeitet, steht jetzt allein mit zwei halbwüchsigen Kindern da. «Passagiere der Nacht» erzählt von den Veränderungen des Lebens, die oft nicht freiwillig sind, aber auch davon, wie es nach unfreiwilligen Richtungsänderungen doch irgendwie weitergeht.
«Das mentale Bild, das wir von den Achtzigern haben, ist in meinen Augen mit einem bestimmten Ton verbunden. Den habe ich versucht einzufangen, indem ich das Bild weicher gemacht habe; vor allem durch den Einsatz von Filtern und einer reduzierten Auflösung der Kamera», hat Regisseur Mikhaël Hers erklärt. Zwischen seine Spielsequenzen hat er Archivaufnahmen vom Paris jener Zeit montiert. Und seine eigenen Bilder sehen oft wie impressionistisch hingetupft aus, vor allem die vielen Nachtaufnahmen der Stadt wirken wie eine Ansammlung bunter Lichtpunkte.

Der ganze Film wirkt wie weichgezeichnet, was nicht negativ gemeint ist, im Gegenteil. «Passagiere der Nacht» ist eine wunderbare Abwechslung in einer Kinolandschaft, in der man fast nur noch die Wahl hat zwischen realitätsfernen Blockbustern und Filmen, die aktuelle Krisenstimmung eins zu eins auf die Leinwand zu tragen scheinen. «Meine Figuren lieben sich», hat Hers gesagt. «Sie helfen sich gegenseitig, passen aufeinander auf. Ich mag dieses Wohlwollen und die Grosszügigkeit, die, zumindest in meinen Augen, der Stoff ist, aus dem Filmheld*innen gemacht sind.»
Dabei kann er auf ein Darstellerensemble vertrauen, das diese Figuren ebenso zurückhaltend wie präzise skizziert – manchmal reicht ein flüchtiger Blick – , auch deren Entwicklung über ein knappes Jahrzehnt hinweg. Vor allem Charlotte Gainsbourg ist toll, die Élisabeth als ebenso sanfte und schüchterne wie starke Frau spielt und dabei ein wunderbares Bild von Weiblichkeit und Mütterlichkeit entwirft.
«Passagiere der Nacht» entwickelt in gewissen Momenten einen richtigen Sog. Wenn in einer Szene Élisabeth und ihre Kinder zu Joe Dassins Chanson «Et si tu n'existais pas» tanzen – jeder für sich und doch alle zusammen –, wäre man gerne als Gast dabei.
Die Szene ist auch eine Art Abschied von der Wohnung, die in einem der futuristisch wirkenden Wohntürme im Stadtviertel Beaugrenelle liegt, das in den Siebzigerjahren aus dem Boden gestampft wurde und den Höhenflug der Zeit architektonisch verkörpert. Sie war der Familie lange ein Nest, am Ende aber wird Élisabeth sie leer räumen. Kinder werden erwachsen, Ehepartner trennen sich und finden neue Partner. So geht das Leben.
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