Mega-Bestseller«Dieses Buch hat alle Regeln gebrochen»
Der riesige Erfolg des Romans «Der Gesang der Flusskrebse» von Delia Owens kam völlig überraschend und hält verblüffend lange an. Woran liegts?

Eines der erfolgreichsten Bücher der letzten Jahre spielt an einem Ort, der sonst egal ist, in einer Zeit, die kaum noch jemanden interessiert, und es wurde geschrieben von einer Ruheständlerin, die bis zu seinem Erscheinen keine Schriftstellerin gewesen war. Aber dann muss doch wenigstens der Titel ein prächtiger Lockvogel gewesen sein, mit bunten Federn und monströser Flügelspannweite? Nun, das Mega-, nein, Tera-Erfolgsbuch von Delia Owens heisst «Der Gesang der Flusskrebse». Die Autorin könnte unter dieser Zeile auch ein schlecht gebuchtes Seminar beim Naturschutzbund anbieten. Und wer je Flusskrebse gesehen hat, will nicht zwingend wissen, wie sie klingen, wenn sie singen.
Die «New York Times» jedenfalls nannte «Where the Crawdads Sing» in gerade noch nobler Zurückhaltung einen «seltsamen Titel» für ein Buch. Sie trug aber Ende 2019 auch einige interessante Beobachtungen zu einem Phänomen zusammen, das in den mehr als zwei Jahren seitdem nur noch phänomenaler geworden ist. Demnach umfasste die englische Erstauflage der Flusskrebse bei Putnam sehr überschaubare 28'000 Bücher, ein kleiner Stapel, der fast verschwindet gemessen an den weltweit zehn Millionen verkauften Exemplaren, die vor einem knappen Jahr in der Zwischenbilanz standen. Auch in der Schweiz ist der Roman seit Monaten in den Charts, aktuell auf Platz Zwei der meistgelesenen Taschenbücher; schon 2020 wurde es zum «Lieblingsbuch des Schweizer Buchhandels» erkoren.
Der Erfolg lässt sich noch anders messen als einzig im Verkauf. So krabbelte die Vokabel «Flusskrebs» seinerzeit in die Top Ten der meistgesuchten Wörter im Online-Nachschlagewerk von Merriam-Webster, nachdem die Anfragen um 1200 Prozent zugelegt hatten. Als bemerkenswert stellte sich auch die Breite der Leserschaft nach allen möglichen Parametern heraus, zum Beispiel der politischen Einstellung. In einer Umfrage von Codex unter 4000 Käuferinnen und Lesern des Buches bezeichneten sich 55 Prozent als progressiv und 30 Prozent als konservativ, der Rest sortierte sich dazwischen ein.