Konflikt in Nahost«Die Weihnachtsbotschaft von Frieden und Versöhnung gibt es für uns nicht»
Nach der Pandemie sind die Touristen zu Weihnachten wieder zurück in der Geburtsstadt Jesu im Westjordanland. Doch eine neue Eskalation der Gewalt überlagert alle Hoffnungen.

Das Jahr war schwierig, es war blutig, doch Weihnachten ist nun mal das Fest des Friedens. In Bethlehem herrscht deshalb in diesen Tagen demonstrative Freudenstimmung. Die Pfadfinder proben für ihren Trommelumzug am Heiligen Abend, auf dem Krippenplatz vor der Geburtskirche Jesu ragt der 15 Meter hohe Weihnachtsbaum mit den roten Kugeln und den goldenen Rentieren in aller Pracht gen Himmel, und ringsherum brummt das Geschäft.
Süsser die Kassen nie klingeln, Weihnachten ist absolute Hochsaison in der Stadt mit 40’000 Einwohnern im Westjordanland. Der ewige Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der gerade wieder heftig eskaliert ist, soll hier zumindest auf Zeit tunlichst hinter den Kulissen verschwinden.
Rund 120’000 Besucherinnen und Besucher werden in den Weihnachtstagen in Bethlehem erwartet. Das sind zwar nicht so viele wie im Rekordjahr 2019, als 150’000 Gäste gezählt wurden. Aber es sind genug, um George Kukeyan in Hochstimmung zu versetzen. «Die Touristen und auch die Pilgergruppen sind wieder da», sagt der Manager des Ambassador Hotels, während hinter ihm die Lichter am Plastikbaum blinken. «Zwischen Weihnachten und Neujahr sind wir zu 100 Prozent ausgebucht, und auch in den anderen Hotels wird es schwer sein, noch ein Zimmer zu bekommen.»
Anno 2022 ist die Herbergssuche in Bethlehem also wieder so schwierig wie seinerzeit bei Maria und Josef, und erleichtert ziehen die Hoteliers, die Gastwirtinnen und die Besitzer der vielen Souvenirläden nach allzu vielen stillen Nächten einen Strich unter die Zeiten der Pandemie. An Weihnachten 2020 und 2021 war der Flughafen in Tel Aviv, über den fast alle internationalen Besucher einreisen, für Ausländer gesperrt. «Das war eine Katastrophe für uns», sagt Kukeyan, «Bethlehem lebt doch fast komplett vom Tourismus.» Nun aber fühle sich alles wieder fast so an wie früher.
«An Weihnachten ist Bethlehem der Mittelpunkt der Welt»
Welche Anziehungskraft Bethlehem auf Besucherinnen und Besucher aus aller Welt ausübt, lässt sich am besten in der Geburtskirche beobachten. Nach aufwendiger Renovierung ist hier das Dach nun wieder dicht, und die Mosaiken erstrahlen in altem Glanz. Im Altarraum werden die goldenen Leuchter schnell noch auf Hochglanz poliert, und vor dem Eingang zur Geburtsgrotte, in der das Christkind der Überlieferung zufolge das Licht der Welt erblickte, bilden sich lange Schlangen.

Der Japaner Takayuki Iwamy hat sich hier eingereiht, der seine zweiwöchige Urlaubsreise bei der Fussball-WM in Katar begonnen hat und von Jordanien kommend nun noch einen Zwischenstopp an der Wiege des Christentums macht. Aus Kalifornien ist Mark Feldman angereist. «Für mich als Juden ist das emotional nicht meine Geschichte hier», sagt er, «aber historisch ist es sehr interessant.» Die Moldauerin Arina Lermut gibt sich als Agnostikerin zu erkennen und nennt «billige Flugtickets» als Grund für ihre Reise ins Heilige Land.
Bethlehem ist für alle da - «und an Weihnachten», so erklärt Khouloud Daibes, «ist Bethlehem der Mittelpunkt der Welt». Die palästinensische Christin war früher einmal Tourismusministerin in der Palästinensischen Autonomiebehörde, danach leitete sie die diplomatische Vertretung in Berlin. Seit dem vorigen Jahr ist sie wieder zurück in der Heimat und steht einer Stiftung zur Entwicklung Bethlehems vor. «Das ist eine grosse Herausforderung», sagt sie. «Denn egal, wie fleissig wir sind, jede Entwicklung wird von den Umständen eingeschränkt.»
Die Umstände, auf die sie verweist, das sind die langen Schatten des Konflikts und der israelischen Besatzung des Westjordanlands. Die Bewegungsfreiheit in den Palästinensergebieten, so erklärt sie, werde dadurch eingeschränkt, ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung und der Tourismus. Wer nach Bethlehem will, müsse erst den Betonwall überwinden, der die Stadt vom nahe gelegenen Jerusalem trennt. Und jederzeit könne ein Aufflammen des Konflikts alle Pläne zur Makulatur machen.
30 Tote auf israelischer und 150 Tote auf palästinensischer Seite
Auch in diesem Jahr, in dem Bethlehem so freudig aus der Pandemie erwacht, ist der Weihnachtsfrieden bedroht von einer Welle der Gewalt. Begonnen hatte es im Frühjahr mit einer Serie von Terroranschlägen in Israel, zuletzt waren noch im November zwei Bomben an Bushaltestellen in Jerusalem explodiert. Fast 30 Tote hat der Terror in diesem Jahr auf israelischer Seite gefordert, und als Reaktion auf die Anschläge kommt es im Westjordanland nun fast täglich zu Zusammenstössen zwischen der israelischen Armee und militanten Palästinensern. Mehr als 150 Tote wurden dabei auf palästinensischer Seite bereits gezählt.
Die meiste Gewalt entlädt sich zwar im nördlichen Westjordanland rund um die Städte Nablus und Dschenin. Doch die allgemeine Anspannung ist auch in Bethlehem zu spüren. Als kürzlich ein palästinensischer Milizionär aus dem Dheisheh-Flüchtlingslager bei einer Schiesserei mit israelischen Soldaten getötet wurde, wurde für Bethlehem ein Generalstreik ausgerufen. Auch die Souvenirhändler mussten ihre Läden schliessen, die Touristen erlebten statt Weihnachtsrummel eine gespenstisch ruhige Stadt.
«Auch hier in der Gegend gibt es fast jede Nacht irgendwelche Razzien der israelischen Armee», sagt Zoughbi Alzoughbi. «Die Weihnachtsbotschaft von Frieden und Versöhnung gibt es für uns nicht». Der 59-Jährige leitet eine NGO namens Wi'am, die sich innerhalb der palästinensischen Gesellschaft für Konfliktlösung einsetzt. Er entstammt einer alteingesessenen christlichen Familie. «Ich bin katholisch bis auf die Knochen. Meine Urahnen waren die Babysitter von Jesus», scherzt er.
In Bethlehem waren die Christen einst gegenüber den muslimischen Palästinensern in der Mehrheit, heute stellen sie noch 40 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner. Zermürbt vom Konflikt, sind viele ausgewandert, oft in die USA, auch drei von Alzoughbis Kindern studieren dort. Die Stimmung in der Stadt jenseits des Weihnachtsgeschäfts beschreibt er in einem Satz: «Die Menschen hier sind hilflos.» Vor allem die jungen Leute hätten das Gefühl, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. «Die fragen nicht um Erlaubnis für eine Revolution, die sind bereit zu sterben», sagt er. Die Zukunft sieht er düster, zumal in Israel nun eine neue rechte Regierung ans Ruder kommt. «Sie werden sehr hart vorgehen», erwartet er. «Jetzt ist die Lage schon schlecht, und sie wird nur noch schlechter.»
Weihnachten wird er trotzdem feiern, mit den Trommlern am Krippenplatz und zu Hause mit der Familie. Um Mitternacht an Heiligabend wird er mit den vielen ausländischen Besucherinnen und Besuchern in der Christmette sitzen, die von hier aus in alle Welt übertragen wird. Wie in jedem Jahr soll von Bethlehem eine Botschaft des Friedens ausgehen. Doch in Bethlehem selbst ist der Frieden wieder einmal fern.
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